Update Arbeitsrecht 17|2023 vom 23.08.2023
Entscheidungsbesprechungen
LAG Niedersachsen: Ordentliche Kündigung einer Betriebsrätin wegen Abteilungsschließung in einer Matrixorganisation
Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.07.2023, Sa 906/22
Es reicht für eine Betriebsabteilung im Sinne des § 15 Abs.5 KSchG nicht aus, wenn ein einzelner Arbeitnehmer aus einer betriebsübergreifenden Matrixorganisation im Betrieb beschäftigt ist.
§ 15 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 102 Abs.1; 103 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); § 179 Abs.3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
Rechtlicher Hintergrund
Mitglieder des Betriebsrats sind vor Kündigungen in besonderer Weise geschützt. Der Sonderkündigungsschutz von Betriebsratsmitgliedern hat zwei Komponenten:
Erstens können sie wie andere Arbeitnehmer außerordentlich aus wichtigem Grunde gekündigt werden, doch braucht der Arbeitgeber dazu gemäß die vorherige Zustimmung des Betriebsrats (als Gremium).
Dies folgt aus § 103 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und § 15 Abs.1 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG). Verweigert der Betriebsrat (als Gremium) die Zustimmung, muss der Arbeitgeber sie gerichtlich ersetzen lassen.
Zweitens sind ordentliche Kündigungen gegenüber Betriebsratsmitgliedern im Allgemeinen ausgeschlossen. Nur im Falle einer Betriebsstillegung oder der Stilllegung einer Betriebsabteilung, sind ordentliche Kündigungen auf der Grundlage von § 15 Abs.4 und Abs.5 KSchG zulässig.
Will der Arbeitgeber ein Betriebsratsmitglied kündigen, ist die Berufung auf eine (angebliche) Abteilungsschließung im Vergleich zu anderen möglichen Kündigungsgründen mit den geringsten rechtlichen Hindernissen verbunden.
Denn bei einer ordentlichen Kündigung unter Berufung auf eine Abteilungsstillegung ist die vorherige Zustimmung des Betriebsrats (als Gremium) nicht nötig. Er muss daher nur gemäß § 102 Abs.1 BetrVG angehört werden.
Und die grundsätzlich bestehende Pflicht zur Übernahme des Betriebsratsmitglieds in eine andere Abteilung kann mit dem Argument bestritten werden, dass dies angeblich „aus betrieblichen Gründen nicht möglich“ ist (§ 15 Abs.5 Satz 2 KSchG).
In einem aktuellen Fall hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hier aber nicht mitgemacht. Das Gericht hat die ordentliche betriebsbedingte Kündigung einer Betriebsrätin, die der Arbeitgeber auf eine Abteilungsstillegung stützen wollte, für unwirksam erklärt: LAG Niedersachsen, Urteil vom 24.07.2023, Sa 906/22
Sachverhalt
Ein Arzneimittelhersteller verkleinerte in der ersten Jahreshälfte 2022 einen seiner weltweit unterhaltenen Standorte, einen niedersächsischen Betrieb mit etwa 90 Arbeitnehmern. Darüber verhandelte er mit dem dortigen Betriebsrat, zunächst ohne Erfolg. Schließlich stellte die Einigungsstelle durch Spruch einen Sozialplan auf.
Im Zuge der Personalreduzierungen wurde auch die 1963 geborene und seit 2003 beschäftigte Betriebsratsvorsitzende und Vertrauensperson der Schwerbehinderten im Juni 2022 ordentlich unter Berufung auf eine angebliche Stilllegung einer Betriebsabteilung gekündigt. Diese Abteilung bestand, so der Arbeitgeber, in dem niedersächsischen Betrieb allein aus der gekündigten Betriebsratsvorsitzenden.
Sie wurde zuletzt als Global Process Expert in dem Bereich „IT ERP - Finance & Controlling“ beschäftigt. Zu ihren Aufgaben gehörten die Entwicklung und Implementierung von SAP-Finanzlösungen, die Analyse von Geschäftsprozessen, die Tätigkeit als interner SAP-Berater, die Durchführung von Anwendungsworkshops und die Entwicklung von Best-Practice-Lösungen für Geschäftsanforderungen.
Sie war fachlich dem Director ERP - Finance & Controlling unterstellt, der wiederum als Mitglied des weltweit tätigen „Global Information Technology Development Center“ nicht in Deutschland, sondern hauptsächlich in Bangalore (Indien) arbeitete.
Aus Sicht des Arbeitgebers waren alle Aufgaben der Betriebsratsvorsitzenden Ende April 2022 in das „Global Information Technology Development Centre“ in Bangalore (Indien) übertragen worden.
Damit sei der „Bereich IT ERP - Finance & Controlling“ in Niedersachsen geschlossen worden. Bei diesem Bereich habe es sich um eine Betriebsabteilung im Sinne von § 15 Abs.5 KSchG gehandelt. Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in dem niedersächsischen Betrieb gebe es nicht.
Das Arbeitsgericht Hannover gab der Kündigungsschutzklage der Betriebsratsvorsitzenden statt (Urteil vom 03.11.2022, 2 Ca 216/22). Seiner Meinung nach lag hier keine Betriebsabteilung vor.
Entscheidung des LAG Niedersachsen
Das LAG wies die Berufung des Arbeitgebers zurück. Die Kündigung war unwirksam, so das LAG.
Allerdings scheiterte sie nicht daran, dass der Arbeitgeber bei der Anhörung des Betriebsrats nicht erwähnt hatte, dass die zu kündigende Betriebsratsvorsitzende auch Vertrauensperson der Schwerbehinderten war und damit auch in dieser Funktion vor Kündigungen besonders geschützt war, nämlich durch § 179 Abs.3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Denn dem Betriebsrat war bereits zuvor bekannt, dass seine Vorsitzende Vertrauensperson war.
Die Kündigung war aber gemäß § 15 Abs.1 KSchG unwirksam, da die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Zulässigkeit gemäß § 15 Abs.5 KSchG hier nicht vorlagen. Der Arbeitgeber hatte keine Betriebsabteilung im Sinne von § 15 Abs.5 Satz 1 KSchG geschlossen.
Eine Betriebsabteilung im Sinne dieser Vorschrift ist, so das LAG unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), ein räumlich und organisatorisch abgegrenzter Teil des Betriebs, der eine personelle Einheit erfordert, dem eigene technische Betriebsmittel zur Verfügung stehen und der einen eigenen Betriebszweck verfolgt, auch wenn dieser in einem bloßen Hilfszweck für den arbeitstechnischen Zweck des Gesamtbetriebs besteht (BAG, Urteil vom 23.02.2010, 2 AZR 656/08, Rn.29).
Eine Abteilung in diesem Sinne gab es hier nicht. Denn die Klägerin bildete als einzelne Arbeitnehmerin keinen räumlich abgegrenzten Teil des Betriebs und keine personelle Einheit.
Auch eigene technische Betriebsmittel wollte das LAG im Streitfall nicht anerkennen. Der Arbeitgeber konnte hier nur auf die übliche Büroausstattung verweisen, die die Klägerin nutzte, d.h. auf Arbeitszimmer, Schreibtisch, Laptop usw. Solche Sachmittel sind aber eine Selbstverständlichkeit für Büroangestellte und können nicht begründen, warum gerade im Falle der Klägerin eine Betriebsabteilung vorliegen sollte.
Im Übrigen hatte der Arbeitgeber vorgetragen, dass die Klägerin in einer betriebsübergreifenden Matrixstruktur dem Bereich „IT ERP - Finance & Controlling“ zugeordnet und dem Director ERP Finance & Controller IT unterstellt war.
Daraus zog das LAG aber den Schluss, dass die Klägerin gerade nicht organisatorisch eigenständig arbeitete, sondern in eine Organisationsstruktur in Form einer Matrix eingebunden war (Urteil, Rn.50).
Praxishinweis
Dem LAG ist zuzustimmen. Es reicht für eine Betriebsabteilung im Sinne des § 15 Abs.5 KSchG nicht aus, wenn ein einzelner Arbeitnehmer aus einer betriebsübergreifenden Matrixorganisation im Betrieb beschäftigt ist.
Die Einbindung von Arbeitnehmern in eine überbetriebliche Matrixstruktur ist unabhängig von der Frage, wie ein in Deutschland unterhaltener Betrieb organisiert ist, dem der Arbeitnehmer zugeordnet ist, und ob es dort Abteilungen im Sinne von § 15 Abs.5 KSchG gibt.
Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.07.2023, Sa 906/22
Handbuch Arbeitsrecht: Anhörung des Betriebsrats
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsänderung
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat - Kündigungsschutz
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratsmitglied
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratsmitglied - Versetzung
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung
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