Update Arbeitsrecht 08|2023 vom 19.04.2023
Leitsatzreport
BAG: Die Zustimmung des Integrationsamts zur Krankheitskündigung macht ein BEM nicht überflüssig
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.12.2022, 2 AZR 162/22
§ 1 Abs.2 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 167 Abs.2, 168 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
Leitsatz des Gerichts:
Die Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung begründet nicht die Vermutung, dass ein (unterbliebenes) betriebliches Eingliederungsmanagement die Kündigung nicht hätte verhindern können.
Hintergrund:
Eine seit 1999 in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigte Versicherungsangestellte, die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt war, war seit Dezember 2014 arbeitsunfähig erkrankt. Im Mai 2019 fand ein Präventionsgespräch statt und die Angestellte erhielt eine Einladung zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM). Daran wollte sie auch teilnehmen, unterzeichnete aber die vom Arbeitgeber vorgefertigte datenschutzrechtliche Einwilligung nicht, sondern stellte Rückfragen und wählte eigene Formulierungen. Nach mehrfachen Hinweisen des Arbeitgebers, dass ohne eine datenschutzrechtliche Einwilligungserklärung kein BEM stattfinden könne, sprach er nach Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 168 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung aus. Das Arbeitsgericht Stuttgart wies die Kündigungsschutzklage der Angestellten ab (Urteil vom 19.05.2021, 15 Ca 3932/20), während das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg (Urteil vom 10.02.2022, 17 Sa 57/21) und das Bundesarbeitsgericht (BAG) ihr recht gaben (BAG, Urteil vom 15.12.2022, 2 AZR 162/22). Gemäß § 167 Abs.2 Satz 4 SGB IX muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zwar auf Art und Umfang der im BEM erhobenen und verwendeten Daten hinweisen, doch ist eine datenschutzrechtliche Einwilligungserklärung keine zwingende BEM-Voraussetzung. Der Arbeitgeber hätte daher auch ohne Einwilligungserklärung ein BEM erst einmal beginnen und datenschutzrechtliche Fragen später klären können. 2006 hatte das BAG für den Fall der Unterlassung eines (auch bei Verhaltenskündigungen durchzuführenden) Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs.1 SGB IX (bzw. gemäß § 84 Abs.1 SGB IX alte Fassung) entschieden, dass bei Vorliegen einer Integrationsamtszustimmung davon auszugehen ist, dass ein Präventionsverfahren die Kündigung nicht hätte verhindern können. Das BAG lässt offen, ob es künftig an dieser Sichtweise festhalten wird. Jedenfalls ist das Verhältnis von Verhaltenskündigung ohne Präventionsverfahren nicht auf den Fall einer Krankheitskündigung ohne BEM zu übertragen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.12.2022, 2 AZR 162/22
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)
Handbuch Arbeitsrecht: Datenschutz im Arbeitsrecht
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Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Krankheitsbedingte Kündigung
Handbuch Arbeitsrecht: Schwerbehinderung, schwerbehinderter Mensch
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