Update Arbeitsrecht 01|2023 vom 11.01.2023
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Urlaubsansprüche verjähren nicht
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.12.2022, 9 AZR 266/20
Der vierwöchige Mindesturlaub unterliegt der Verjährung, doch beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst, nachdem der Arbeitgeber seine urlaubsrechtlichen Mitwirkungspflichten erfüllt hat.
Art.7 Richtlinie 2003/88/EG; Art.31 Abs.2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC); § 7 Abs.3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG); §§ 194, 195, 199, 214 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
Rechtlicher Hintergrund
Der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen gemäß § 7 Abs.3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) verfällt am Jahresende. Stehen dringende betriebliche oder persönliche Gründe dem Urlaub entgegen, wird er auf das nächste Jahr übertragen und ist dann bis Ende März zu nehmen (§ 7 Abs.3 Satz 2 und 3 BUrlG).
Auf diese Fristenregelungen, d.h. auf den Verfall nicht genommener Urlaubstage, kann sich der Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nur berufen, wenn er den Arbeitnehmer zuvor rechtzeitig darauf hingewiesen und zum Urlaub aufgefordert hat (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, C-684/16 [Shimizu]; BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15).
Verstoßen Arbeitgeber gegen ihre Pflicht zur Warnung vor dem drohenden Urlaubsverfall, gehen ungenutzte Urlaubsansprüche auf das Folgejahr über. Sie müssen dann auch nicht unbedingt bis Ende März genommen werden, sondern erhöhen den gesamten Urlaubsanspruch des Folgejahres (BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15, Rn.46). Dadurch können sich im Laufe der Jahre erhebliche Urlaubsansprüche aufsummieren.
Fraglich ist, ob Urlaubsansprüche aus länger zurückliegenden Jahren gemäß §§ 195, 199 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) drei Jahre nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres verjähren. Das würde Arbeitgeber zwar vor allzu hohen Alt-Forderungen schützen, aber den Gesundheitsschutz verringern, der nach der Rechtsprechung des EuGH hinter dem vierwöchigen Mindesturlaub gemäß Art.7 Richtlinie 2003/88/EG steht.
Daher hatte das BAG den EuGH im Herbst 2020 gefragt, ob nicht genommene Mindesturlaubsansprüche verjähren (können), falls ihr jahrelanges Fortbestehen darauf zurückzuführen ist, dass der Arbeitgeber seine urlaubsrechtlichen Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hat (BAG, Beschluss vom 29.09.2020, 9 AZR 266/20 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 22|2020).
Nachdem der EuGH diese Frage vor kurzem im Sinne der Arbeitnehmerseite, d.h. mit nein beantwortet hatte (EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C-120/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 20|2022), konnte das BAG den Streitfall nunmehr im Sinne der klagenden Arbeitnehmerin entscheiden: BAG, Urteil vom 20.12.2022, 9 AZR 266/20 (Pressemitteilung des Gerichts).
Sachverhalt
Eine seit 1996 bei einer Steuerkanzlei tätige Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin hatte über viele Jahre ihren Urlaub von 24 Arbeitstagen pro Jahr nur teilweise genommen. Im März 2012 bescheinigte ihr der Kanzleiinhaber das Bestehen eines Resturlaubsanspruchs von mehr als 70 Tagen aus 2011. Danach nahm die Angestellte ihren Urlaub zwar weitgehend in Anspruch, aber nicht vollständig. Eine Urlaubsabgeltung bekam sie bei ihrem Ausscheiden im Juli 2017 nur zum Teil.
Die Angestellte verklagte ihren Ex-Arbeitgeber daher im Februar 2018 auf Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und aus den Vorjahren. Der Arbeitgeber berief sich u.a. auf die Verjährung der Ansprüche.
Das Arbeitsgericht Solingen verurteilte den Arbeitgeber nur zur Abgeltung von drei Urlaubstagen (Urteil vom 19.02.2019, 3 Ca 155/18), das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf dagegen zur Abgeltung weiterer 76 Tage, d.h. von immerhin 17.376,64 EUR (Urteil vom 02.02.2020, 10 Sa 180/19). Die streitigen Resturlaubstage waren nicht verjährt, so das LAG.
Wie erwähnt legte das BAG dem EuGH im September 2020 den Streitfall vor, und dieser stellte im September 2022 klar, dass eine Verjährung nicht zulässig ist.
Entscheidung des BAG
Das BAG entschied den Fall zugunsten der Klägerin und wies die Revision des Arbeitgebers zurück. In der derzeit allein vorliegenden Pressemitteilung des BAG heißt es zur Begründung:
Die Vorschriften über die Verjährung sind zwar auf den gesetzlichen Mindesturlaub anzuwenden, doch beginnt die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist gemäß § 199 Abs.1 BGB bei richtlinienkonformer Auslegung dieser Vorschrift nicht immer mit Ende des Urlaubsjahres, in dem der Urlaub entstanden ist.
Die Verjährung beginnt vielmehr erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen Urlaubsanspruch und die gesetzlichen Verfallsfristen informiert hat. Nur wenn der Arbeitnehmer trotz einer solchen Information den Urlaub nicht nimmt, verjährt er binnen drei Jahren.
Mit dieser Rechtsprechung zum Thema Urlaubsverjährung setzt das BAG die Vorgaben des EuGH um, d.h. das Urteil vom 22.09.2022 (C-120/21).
Praxishinweis
Obwohl die BAG-Entscheidung in den letzten Wochen oft als eine wichtige Rechtsänderung bewertet wurde, sind ihre praktischen Auswirkungen eher gering.
Denn die vom BAG vorgenommene Begrenzung der Verjährung betrifft nur den Anspruch auf den Urlaub selbst, d.h. auf eine bezahlte Freistellung während des (noch bestehenden) Arbeitsverhältnisses. Die verjährungsrechtlichen Aussagen des BAG betreffen dagegen nicht den Anspruch auf Urlaubsabgeltung.
In dem vom BAG entschiedenen Streitfall ging es zwar vordergründig um einen Abgeltungsanspruch, in der Sache aber um die Frage, ob ein bereits 2012 bestehender und auch schriftlich anerkannter Urlaubsanspruch in den folgenden Jahren von 2013 bis 2016 verjährte. Das hätte dazu geführt, dass sich der Arbeitgeber bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Juli 2017 auf die Verjährung des abzugeltenden Urlaubsanspruchs hätte berufen können.
Arbeitnehmer, die in den vergangenen Jahren aus einem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind und keine oder eine zu gering berechnete Urlaubsabgeltung erhalten haben, können sich daher nicht auf das BAG-Urteil berufen. Denn nach der BAG-Rechtsprechung ist der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ein reiner Geldanspruch. Er unterliegt sowohl der Verjährung und auch arbeits- und/oder tarifvertraglichen Ausschlussfristen.
Praktisch gesehen können sich Arbeitnehmer daher nur dann mit Aussicht auf Erfolg auf das aktuelle BAG-Urteil berufen, wenn sie 2020 oder später aus einem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, wenn sie bei ihrem Ausscheiden wegen der arbeitgeberseitigen Verletzung urlaubsrechtlicher Mitwirkungspflichten offene Urlaubsansprüche hatten, die nicht oder nur zum Teil abgegolten wurden, und wenn der Abgeltungsanspruch nicht durch arbeits- und/oder tarifvertragliche Ausschlussfristen untergegangen ist.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.12.2022, 9 AZR 266/20 (Pressemitteilung des Gerichts)
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 22.09.2022, C-120/21
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29.09.2020, 9 AZR 266/20 (A)
Handbuch Arbeitsrecht: Ausschlussfrist
Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub, Urlaubsanspruch
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