Update Arbeitsrecht 21|2023 vom 18.10.2023
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Bei der Eingliederung Schwerbehinderter ist der Betriebsrat auch für leitende Angestellte zuständig
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 09.05.2023, 1 ABR 14/22
Die gesetzliche Aufgabe des Betriebsrats, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern, umfasst auch die Gruppe der schwerbehinderten und gleichgestellten leitenden Angestellten.
§§ 5 Abs.3; 79a; 80 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); §§ 2, 163 Abs.1, 176, 177 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); § 27 Sprecherausschussgesetz (SprAuG)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 5 Abs.3 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) findet das Gesetz grundsätzlich, d.h. wenn das BetrVG selbst ausdrücklich etwas anderes regelt, keine Anwendung auf leitende Angestellte.
Das bedeutet, dass die auf der Grundlage des BetrVG gewählten Betriebsräte die Gruppe der leitenden Angestellten nicht vertreten. Sie werden durch den Sprecherausschuss vertreten, der nach dem Sprecherausschussgesetz (SprAuG) gewählt wird.
Allerdings heißt es in § 80 Abs.1 Nr.4 BetrVG, dass Betriebsräte die Aufgabe haben, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen einschließlich der Förderung des Abschlusses von Inklusionsvereinbarungen zu fördern. Ein Ausschluss der leitenden Angestellten von dieser Aufgabe des Betriebsrats lässt sich dieser Vorschrift nicht entnehmen.
In diese Richtung geht auch § 176 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Danach fördert der Betriebsrat, ebenso wie die anderen in dieser Vorschrift genannten Gremien, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen. Auch hier ist nicht erkennbar, dass die leitenden Angestellten davon ausgenommen werden sollen.
In einem aktuellen Beschluss hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) aus diesen Vorschriften die Schlussfolgerung gezogen, dass die Pflicht des Betriebsrats zur Förderung der Eingliederung schwerbehinderter Menschen auch die leitenden Angestellten umfasst (BAG, Beschluss vom 09.05.2023, 1 ABR 14/22).
Sachverhalt
Der Karlsruher Betriebsrat eines u.a. dort tätigen Entsorgungsunternehmens verlangte von ihm im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren Auskunft über Anzahl und Namen der im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen im Sinne des § 2 SGB IX.
Hintergrund des Auskunftsverlangens war u.a., dass der Betriebsrat plante, eine Wahl zur Schwerbehindertenvertretung (SBV) gemäß § 177 SGB IX in die Wege zu leiten. Eine SBV gab es im Betrieb bislang nicht.
In solchen Fällen wird der Wahlvorstand für die SBV-Wahl von einer Versammlung der Schwerbehinderten und Gleichgestellten gewählt. Zu dieser Versammlung kann der Betriebsrat einladen, § 1 Abs.2 Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen (SchwbVWO). Dafür ist es notwendig, dass der Betriebsrat die Namen der im Betrieb tätigen schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten kennt.
Außerdem stützte der Betriebsrat sein Auskunftsverlangen auf seine Pflicht gemäß § 176 Satz 1 SGB IX, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern.
Das Arbeitsgericht Karlsruhe (Beschluss vom 22.07.2021, 8 BV 8/20) und das für die Beschwerde zuständige Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg gaben dem Betriebsrat Recht (LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.05.2022, 12 TaBV 4/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 13|2022).
Rechtsgrundlage war, so das LAG, § 80 Abs.2 Satz 1 BetrVG, wonach der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner gesetzlichen Aufgaben rechtzeitig und umfassend unterrichten muss.
Entscheidung des BAG
Das BAG gab dem Arbeitgeber teilweise recht.
Gemäß den Entscheidungen der Vorinstanzen war er nicht nur zur Auskunft verpflichtet worden, sondern auch zum Unterlassen einer angeblichen Behinderung der Betriebsratsarbeit durch Nicht-Erteilung der Auskünfte, wobei ihm für den Fall einer Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld angedroht worden war. Das ging zu weit, so das BAG.
Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Auskunft war aber in Ordnung. Die Auskunftspflicht ließ sich dabei aber im Streitfall nicht mehr mit der geplanten Wahl einer SBV begründen, denn die Wahl zur SBV war zum Zeitpunkt der Entscheidung des BAG bereits durchgeführt worden.
Trotzdem bestand die Auskunftspflicht weiter fort, so das BAG. Denn der Betriebsrat hat gemäß § 80 Abs.1 Nr.4 BetrVG und außerdem gemäß § 176 Satz 1 SGB IX die Aufgabe, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern. Das beinhaltet u.a. die Überprüfung, ob der Arbeitgeber seine besondere Beschäftigungspflicht gegenüber schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen gemäß § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 SGB IX erfüllt.
Diese und weitere Förder- und Überwachungspflichten erstrecken sich auch auf leitende Angestellte im Sinne von § 5 Abs.3 BetrVG. Um diese Pflichten zu erfüllen, muss der Betriebsrat die Namen aller im Betrieb tätigen schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten kennen, d.h. auch der schwerbehinderten und gleichgestellten leitenden Angestellten.
Denn die Pflicht des Betriebsrats gemäß § 176 Satz 1 SGB IX, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern, gilt für alle Beschäftigten und klammert leitende Angestellte nicht aus.
Außerdem gehört der für die leitenden Angestellten zuständige Sprecherausschuss nach dem Sprecherausschussgesetz (SprAuG) nicht zu den in § 176 Satz 1 SGB IX genannten Gremien, die - wie der Betriebsrat -gesetzlich verpflichtet sind, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern. Eine solche spezifische Förderungspflicht des Sprecherausschusses ergibt sich auch nicht aus § 27 SprAuG.
Daher beziehen sich die Aufgaben und Pflichten des Betriebsrats im Zusammenhang mit der Eingliederung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen auch auf die leitenden Angestellten im Sinne von § 5 Abs.3 Satz 1 BetrVG.
Die in § 5 Abs.3 Satz 1 BetrVG enthaltene Klarstellung, dass das BetrVG Gesetz auf leitende Angestellte nicht anzuwenden ist, gilt im Übrigen nur, „soweit in ihm nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist“. Bzgl. der Zuständigkeit des Betriebsrats für die Eingliederung aller schwerbehinderten Beschäftigten bestimmt § 80 Abs.1 Nr.4 BetrVG aber „etwas anderes“.
Praxishinweis
Der ausführlich begründeten Entscheidung des BAG ist zuzustimmen.
Die Aufgabe des Betriebsrats gemäß § 80 Abs.1 Nr.4 BetrVG und § 176 Satz 1 SGB IX, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern, erfasst auch die Gruppe der leitenden Angestellten.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 09.05.2023, 1 ABR 14/22
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 20 05.2022, 12 TaBV 4/21
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat
Handbuch Arbeitsrecht: Schwerbehinderung, schwerbehinderter Mensch
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