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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 05|2023

Update Arbeitsrecht 05|2023 vom 08.03.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Vorrang der Tarifautonomie bei der Festsetzung von Tarifzuschlägen für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.02.2023, 10 AZR 332/20

Tarifliche Vorschriften, die höhere Nachtzuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit vorsehen als für regelmäßige Nachtarbeit, sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 Grundgesetz (GG) in der Regel vereinbar.

Art.2 Abs.2 Satz 1; Art.3 Abs.1; 9 Abs.3 Grundgesetz (GG); § 6 Abs.5 Arbeitszeitgesetz (ArbZG); §§ 3 Abs.1, 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz (TVG); Manteltarifvertrag der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost, vom 24.03.1998 (MTV); Art.20 Europäische Grundrechtecharta (GRC); Richtlinie 2003/88/EG

Rechtlicher Hintergrund

Tarifverträge sehen oft vor, dass Arbeitnehmer höhere Lohnzuschläge bei unregelmäßiger als bei regelmäßiger Nachtarbeit erhalten. Eine ähnliche tarifliche Regelung besagt, dass außerhalb eines Schichtsystems mit höheren Zuschlägen versehen ist als Nachtarbeit im Rahmen eines festen Schichtsystems.

Der Sinn solcher Regelungen liegt darin, dass hin und wieder verrichtete Nachtarbeit die betroffenen Arbeitnehmer vor größere Probleme stellt als regelmäßige Nachtarbeit. Denn auf regelmäßige Nachtarbeit kann man sein Privatleben besser einstellen als auf unregelmäßige Nachtarbeit.

Nachdem unterschiedlich hohe tarifliche Nachtzuschläge lange Zeit für wirksam gehalten wurden, hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) im März 2018 dagegen ausgesprochen (BAG, Urteil vom 21.03.2018, 10 AZR 34/17). 

In dem damaligen BAG-Fall betrug der Unterschied der Tarifzuschläge 35 Prozent, d.h. Nachtschichtarbeiter bekamen 15 Prozent mehr Lohn, während der Zuschlag bei unregelmäßiger Nachtarbeit 50 Prozent betrug. Ein so großer Unterschied verstößt gegen Art.3 Abs.1 Grundgesetz (GG), d.h. den Gleichheitsgrundsatz, so das BAG 2018.

Zwar sind solche Tarifregelungen im Grundsatz von der Tarifautonomie geschützt, d.h. durch Art.9 Abs.3 GG. Trotzdem meinte das BAG, der grundrechtlich geschützten Gestaltungsfreiheit der Tarifparteien eine Grenze zugunsten des Gesundheitsschutzes (Art.2 Abs.2 Satz 1 GG) setzen zu müssen. 

Denn jede Form der Nachtarbeit gefährdet die Gesundheit. Daher besteht, so das BAG im Jahr 2018, zwischen den beiden Gruppen von nachts arbeitenden Arbeitnehmern kein wesentlicher sachlicher Unterschied, der so große Gehaltsunterschiede rechtfertigen könnte. 

Das BAG-Urteil vom März 2018 löste eine Klagewelle von Arbeitnehmern aus, die regelmäßige Nachtarbeit verrichteten und auf höhere Zuschläge klagten. Damit hatten sie vor den Arbeitsgerichten und den Landesarbeitsgerichten (LAG) oft keinen Erfolg, denn diese Gerichte folgten der Meinung des BAG nicht. Auch viele Arbeitsrechtler kritisierten das BAG-Urteil vom März 2018.

Im Dezember 2020 rückte das BAG von seinem Urteil aus dem Jahr 2018 wieder ab und legte einen Berliner Streitfall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor. Dabei wollte das BAG wissen, ob mit Tarifvorschriften über Nachtzuschläge zugleich die EU-Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) umgesetzt wird, und falls ja, ob unterschiedlich hohe Zuschläge für regelmäßige bzw. für gelegentliche Nachtarbeit mit dem Gleichheitssatz der Europäischen Grundrechtecharta (GRC), d.h. mit Art.20 GRC vereinbar sind (BAG, Beschluss vom 09.12.2020, 10 AZR 332/20 (A)). 

Darauf entschied der EuGH, dass tarifliche Regelungen, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Lohnzuschlag vorsehen als für regelmäßige Nachtarbeit, nicht als Durchführung der Arbeitszeitrichtlinie im Sinne von Art.51 Abs.1 GRC anzusehen sind (EuGH, Urteil vom 07.07.2022, C-257/21 und C-258/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2022 vom 27.07.2022). Das Europarecht macht den deutschen Arbeitsgerichten hier also keine inhaltlichen Vorgaben.

Auf dieser Grundlage konnte das BAG den Berliner Fall jetzt endgültig entscheiden: BAG, Urteil vom 22.02.2023, 10 AZR 332/20.

Sachverhalt

Eine bei Coca-Cola beschäftigte Arbeitnehmerin, die von Dezember 2018 bis Juni 2019 regelmäßige Nachtarbeit leistete und dafür die tariflich vorgesehenen Zuschläge von 20 Prozent bekam, hatte auf Zahlung weiterer Zuschläge geklagt, d.h. sie wollte einen Zuschlag von insgesamt 50 Prozent.

Hintergrund des Streits war der Manteltarifvertrag der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost, vom 24.03.1998 (MTV), den Coca-Cola bei der Bezahlung von Nachtarbeit anwandte. Gemäß § 7 Nr.1 MTV gibt es für regelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 20 Prozent und für unregelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 50 Prozent.

Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab (Urteil vom 16.10.2019, 39 Ca 9996/19), während das LAG Berlin-Brandenburg der Klage stattgab, soweit die Zahlungsansprüche nicht aufgrund tariflicher Ausschlussfristen verfallen waren (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.06.2020, 8 Sa 2030/19). 

Nachdem das BAG den EuGH wie erwähnt zu dem Fall befragt hatte und im Juli 2022 eine Antwort erhielt (EuGH, Urteil vom 07.07.2022, C-257/21 und C-258/21), lag der Fall jetzt wieder beim BAG.

Entscheidung des BAG

Wie nach dem EuGH-Urteil kaum anders zu erwarten war, hatte die Revision von Coca Cola vor dem BAG Erfolg. Das BAG bestätigte die Klagabweisung durch das Arbeitsgericht. In der derzeit allein vorliegenden Pressemitteilung des BAG heißt es:

Der Unterschied zwischen den Nachtarbeitszuschlägen gemäß dem MTV verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG. 

Denn obwohl die beiden Gruppen von Arbeitnehmern, d.h. die regelmäßig nachts arbeitenden Arbeitnehmer und die nur hin und wieder nachts arbeitenden Arbeitnehmer, miteinander vergleichbar sind, und obwohl die regelmäßig nachts arbeitenden Arbeitnehmer weniger günstig behandelt werden, gibt es für diese Ungleichbehandlung einen sachlichen Grund, der auch aus dem Tarifvertrag erkennbar ist, so das BAG. 

Beide Zuschläge beinhalten nämlich einen angemessenen Ausgleich für die gesundheitlichen Belastungen der Nachtarbeit, d.h. der regelmäßigen wie der unregelmäßigen, und sie sind damit vorrangig gegenüber dem gesetzlichen Anspruch auf einen Nachtarbeitszuschlag gemäß § 6 Abs.5 Arbeitszeitgesetz (ArbZG). 

Darüber hinaus sollen die Zuschläge aber auch die besonderen Belastungen für Arbeitnehmer ausgleichen, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten und damit weitergehende Planungsprobleme haben, so das BAG. Diese Zwecksetzung der (höheren) Zuschläge ist von der Tarifautonomie gedeckt.

Es ist den Tarifvertragsparteien nicht verwehrt, mit einem Nachtarbeitszuschlag neben dem Schutz der Gesundheit weitere Zwecke zu verfolgen, nämlich einen Ausgleich für besondere Planungsschwierigkeiten zu gewähren. Dieser zusätzliche Zweck ergibt sich auch aus dem MTV. 

Schließlich lehnt das BAG eine Angemessenheitsprüfung in Bezug auf den tariflich festgelegten Unterschied zwischen den Zuschlägen ab. Es steht im Ermessen der Tarifvertragsparteien, wie sie den Aspekt der schlechteren Planbarkeit für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, finanziell bewerten und ausgleichen.

Praxishinweis

Mit seinem aktuellen Urteil hat das BAG seine seit 2018 verfolgte Linie deutlich korrigiert und im Grunde aufgegeben. 

Höhere tarifliche Nachtzuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit sind nach der aktuellen BAG-Rechtsprechung mit Art.3 Abs.1 GG in der Regel vereinbar. 

Der Sachgrund für die Ungleichbehandlung liegt darin, dass höhere Zuschläge die Belastungen ausgleichen sollen, die durch die geringere Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit hervorgerufen werden. Diesen Sachgrund und die dahinter stehende Tarifautonomie hat das BAG jetzt anerkannt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.02.2023, 10 AZR 332/20 (Pressemitteilung des Gerichts)

BAG, Mitteilung zu den Verfahren über tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge, Pressemeldung vom 12.07.2022 

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 07.07.2022, C-257/21 und C-258/21 (Coca-Cola)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 09.12.2020, 10 AZR 332/20 (A)

 

Handbuch Arbeitsrecht: Gleichbehandlungsgrundsatz

Handbuch Arbeitsrecht: Lohn und Gehalt

Handbuch Arbeitsrecht: Tarifvertrag

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