Update Arbeitsrecht 15|2023 vom 26.07.2023
Leitsatzreport
BAG: Ermittlung der Betriebsgröße bei Massenentlassungen
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11.05.2023, 6 AZR 157-22 (A)
§ 17 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.1 Abs.1 Buchstabe a); Art.3 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 148 Zivilprozessordnung (ZPO); § 113 Satz 2 Insolvenzordnung (InsO)
Leitsatz des Gerichts:
Die für die Schwellenwerte des § 17 Abs.1 Satz 1 KSchG maßgebliche Betriebsgröße ist nicht stichtagsbezogen zu ermitteln. Maßgeblich ist vielmehr diejenige Personalstärke, die bei regelmäßigem Geschäftsgang für den Betrieb kennzeichnend ist.
Hintergrund:
Ein Arbeitnehmer war seit 1994 im Zuge einer insolvenzbedingten Betriebsschließung vom Insolvenzverwalter mit der verkürzten dreimonatigen Kündigungsfrist gemäß § 113 Satz 2 Insolvenzordnung (InsO) am 08.12.2020 zu Ende März 2021 gekündigt worden. Dagegen hatte er Kündigungsschutzklage eingereicht. Dabei berief er sich entsprechend der langjährigen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) darauf, dass der Insolvenzverwalter vor Ausspruch der Kündigung keine Massenentlassungsanzeige erstattet hatte. Denn gemäß § 17 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) sind Arbeitgeber in Betrieben mit „in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern“ zur Massenentlassungsanzeige verpflichtet, wenn sie innerhalb von 30 Kalendertagen mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen. Das hatte der Verwalter hier zwischen dem 08.12.2020 und dem 06.01.2021 getan, berief sich aber darauf, dass zum Kündigungszeitpunkt - als Stichtag - angeblich nur noch weniger als 21 Arbeitnehmer beschäftigt waren. Dieses Argument ließ das BAG nicht gelten. Denn nach dem klaren Wortlaut der Schwellenwerte des § 17 Abs.1 Satz 1 KSchG kommt es auf die „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer an und nicht auf die Belegschaftsgröße zum Stichtag der Kündigungserklärungen. Interessant ist die BAG-Entscheidung auch deshalb, weil das BAG das Verfahren bis zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu einem Vorlagefall des BAG aus dem Jahr 2022 ausgesetzt hat. Dieses EuGH-Urteil liegt mittlerweile vor (EuGH, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22, s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2023). Der BAG-Entscheidung ist zu entnehmen, dass das BAG seine o.g. ständige Rechtsprechung aufgrund dieses EuGH-Urteils nunmehr infrage stellt. Möglicherweise führen künftig Fehler bei der Massenentlassung nicht mehr zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11.05.2023, 6 AZR 157-22 (A)
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsänderung
Handbuch Arbeitsrecht: Insolvenz des Arbeitgebers
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung
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