Update Arbeitsrecht 17|2020 vom 19.08.2020
Entscheidungsbesprechungen
LAG Mecklenburg-Vorpommern: Außerordentliche betriebsbedingte Änderungskündigung bei ordentlicher Unkündbarkeit gemäß den AVR Diakonie
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 16.06.2020, 5 Sa 53/20
Außerordentliche betriebsbedingte Kündigungen sind durch die Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie Deutschland (AVR-DD) nicht generell ausgeschlossen, aber nur äußerst selten zulässig.
§ 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); §§ 30, 31, 32 Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie in Deutschland (AVR-DD); § 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 34 Abs.2 Satz 1 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 626 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) können Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis „aus wichtigem Grund“ und ohne Einhaltung einer Frist kündigen,
„wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (…) nicht zugemutet werden kann.“
Nach einigen Tarifverträgen ist dieses Recht zur außerordentlichen Kündigung die einzige Möglichkeit für Arbeitgeber, sich einseitig vom Arbeitsverhältnis zu lösen, denn die ordentliche arbeitgeberseitige Kündigung ist tarifvertraglich ausgeschlossen. Eine solche sog. Unkündbarkeit gilt z.B. gemäß § 34 Abs.2 Satz 1 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) für Arbeitnehmer ab einem Alter von 40 Jahren nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren bei einem öffentlichen Arbeitgeber im Tarifgebiet West.
Auch gemäß § 30 Abs.3 der Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie in Deutschland (AVR-DD) ist die ordentliche Kündigung durch den Dienstgeber nach 15-jähriger Beschäftigung und einem Alter von mindestens 40 Jahren ausgeschlossen. Im Unterschied zum TVöD ist eine ordentliche Kündigung allerdings u.a. dann zulässig, wenn die Dienststelle oder Einrichtung, in der der Arbeitnehmer tätig war, wesentlich eingeschränkt oder aufgelöst wird (§ 31 Abs.2 AVR-DD).
Unter derartigen Umständen (wesentliche Betriebseinschränkung oder -schließung) wären Arbeitgeber nach allgemeinem Kündigungsrecht (gemäß § 626 BGB) auch gegenüber tariflich unkündbaren Arbeitnehmern zur außerordentlichen Kündigung berechtigt (wobei sie allerdings eine sog. Auslauffrist - entsprechend den bei ordentlicher Kündbarkeit geltenden - Kündigungsfristen gewähren müssen). Da nach § 31 Abs.2 AVR-DD in einem solchen Fall eine ordentliche Kündigung möglich ist, gehen die AVR-DD davon aus, dass kirchliche Dienstgeber kein Recht zur außerordentlichen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen brauchen. Daher schreibt § 32 Abs.4 AVR-DD vor, dass unkündbare Arbeitnehmer nur aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen „fristlos“ gekündigt werden können.
Fraglich ist, ob ein solcher Ausschluss der außerordentlichen / fristlosen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen nicht zu weit geht. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) kann das Recht zur außerordentlichen Kündigung nicht ausgeschlossen oder beschränkt werden (BAG, Urteil vom 20.06.2013, 2 AZR 379/12, Rn.16). Mit dieser Frage hat sich das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern in einer aktuellen Entscheidung befasst (Urteil vom 16.06.2020, 5 Sa 53/20).
Sachverhalt
Ein 1966 geborener und seit 2001 in leitender Position beschäftigter Arbeitnehmer lag seit langem mit seinem Arbeitgeber, einem Diakonieverein, im Streit. Der Arbeitgeber hatte von 2013 bis 2018 insgesamt sechs Änderungskündigungen ausgesprochen, gegen die sich der Arbeitnehmer mit Erfolg gerichtlich zur Wehr setzen konnte. Infolge der Streitigkeiten nahm er seine ursprünglichen Arbeitsaufgaben als Bereichsleiter stationäre Altenhilfe seit 2014 nicht mehr wahr. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die AVR-DD Anwendung.
Im Juni 2019 sprach der Diakonieverein unter Berücksichtigung der ordentlichen Unkündbarkeit des Arbeitnehmers eine außerordentliche Änderungskündigung aus und bot ihm an, künftig als „Einrichtungsleiter in Kombination mit der verantwortlichen Pflegefachkraft für die zu errichtende häusliche psychiatrische Krankenpflege“ zu arbeiten. Anstelle der für diese Tätigkeit richtigen Vergütung gemäß Entgeltgruppe (EG) 9 sollte der Arbeitnehmer wie bisher nach EG 12 vergütet werden.
Der Arbeitnehmer nahm das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung gemäß § 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) an und erhob Änderungsschutzklage, d.h. er wollte gerichtlich festgestellt wissen, dass die Änderung bzw. Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen nicht rechtens war. Das Arbeitsgericht Rostock wies die Klage ab (Urteil vom 12.12.2019, 2 Ca 751/19).
Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern
Vor dem LAG hatte der Kläger Erfolg. Zur Begründung heißt es in dem Urteil:
Die §§ 30 bis 32 AVR-DD sind zwar zugunsten des Arbeitgebers so auszulegen, dass kirchliche Dienstgeber in Extremfällen auch zu einer außerordentlichen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen berechtigt sein können (Urteil, Rn.84). Denn sie dürfen, so das LAG, durch diese Regelungen nicht dazu gezwungen werden, über Jahre hinweg ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis fortzuführen.
Allerdings ist eine betriebsbedingte außerordentliche Kündigung dementsprechend selten zulässig. Bevor der Arbeitgeber einen solchen Schritt gegenüber einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer ergreift, muss er sämtliche zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um dies zu vermeiden. Er muss sich erst einmal nach anderen Einsatzmöglichkeiten umsehen, die höchstens eine Entgeltgruppe unter den bisherigen Aufgaben liegen dürfen (Urteil, Rn.86).
Diese Anstrengungen hatte der Diakonieverein hier nicht unternommen bzw. dem Gericht nicht nachgewiesen. Er hatte nicht belegt, dass er dem Arbeitnehmer keine höherwertigen Tätigkeiten als solche der EG 9 anbieten konnte. Falls sämtliche Arbeitsplätze der EG 10, der EG 11 oder der EG 12 besetzt sein sollten, hätte er prüfen müssen, ob in absehbarer Zeit mit einem Freiwerden zu rechnen war (Urteil, Rn.90).
Da es zur Auslegung der Unkündbarkeitsvorschriften der AVR-DD bisher keine BAG-Entscheidungen gibt, hat das LAG die Revision zum BAG zugelassen.
Praxishinweis
Die Zusage, als Arbeitgeber auf das Recht zur ordentlichen Kündigung zu verzichten, ist ein sehr weitgehendes rechtliches Zugeständnis.
Abgesehen von außerordentlichen fristlosen Kündigungen aus verhaltensbedingten Gründen können sich Arbeitgeber, die Unkündbarkeitsvorschriften zu beachten haben, von Arbeitnehmern nur dann per Kündigung trennen, wenn sie andernfalls mit einem „dauerhaft sinnentleertem“ Arbeitsverhältnis belastet wären. An dieser Stelle legen die Gerichte die Messlatte zurecht hoch.
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 16.06.2020, 5 Sa 53/20
Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR)
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Änderungskündigung
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - außerordentliche Kündigung
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung
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