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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 23|2023

Update Arbeitsrecht 23|2023 vom 15.11.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Diagnoseschlüssel bei ärztlichen Bescheinigungen der Arbeitsunfähigkeit

§§ 3, 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG); § 5 Abs.1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

Ein Verstoß gegen die in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie enthaltene Pflicht, auf der ärztlichen Bescheinigung Diagnosen anzugeben, kann den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern.

Rechtlicher Hintergrund

Können Arbeitnehmer aufgrund einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit (AU) nicht arbeiten, haben sie gemäß § 3 Abs.1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis maximal sechs Wochen. 

Nachzuweisen ist die AU durch eine ärztliche AU-Bescheinigung, aus der die AU und ihre voraussichtliche Dauer hervorgehen. 

Im Normalfall gehen die Arbeitsgerichte davon aus, dass während der Zeiten einer von einem Vertragsarzt ausgestellten AU-Bescheinigung auch wirklich eine AU vorliegt („Beweiswert“ einer ärztlichen AU-Bescheinigung).

Allerdings kann das im Ausnahmefall anders sein, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die AU-Bescheinigung unrichtig ist. Dann ist der Beweiswert der AU-Bescheinigung „erschüttert“. 

Klagt in solchen Fällen ein Arbeitnehmer auf Entgeltfortzahlung, muss durch Befragung des Arztes und/oder andere Beweismittel vor Gericht Beweis über die AU im streitigen Zeitraum erhoben werden. Die ärztliche Krankschreibung genügt dann zum Beweis nicht mehr.

Umstände, die den Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttern, sind z.B. anstrengende Arbeiten bei einem anderen Arbeitgeber, ein angekündigtes Krankfeiern oder auch die merkwürdig „passgenaue“ Übereinstimmung der bescheinigten AU mit der Kündigungsfrist nach einer Kündigung (Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 19|2021).

Vor kurzem musste sich das BAG mit der Frage befassen, ob auch ein Verstoß des Arztes gegen die sog. Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie den Beweiswert einer AU erschüttern kann. 

Nach dieser - meist mehrfach pro Jahr aktualisierten -Richtlinie sind in der AU-Bescheinigung alle Diagnosen anzugeben, die aktuell vorliegen und die attestierte Dauer der Arbeitsunfähigkeit begründen. 

Bloße Symptome wie z.B. Fieber oder Übelkeit sind nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen (§ 5 Abs.1 Satz 4 und 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vom 01.04.2023).

Kann man sich aber auf die Richtigkeit einer AU-Bescheinigung verlassen, die auch nach sieben Tagen noch „bloße Symptome“ attestiert oder ist ihr Beweiswert dann erschüttert? 

Sachverhalt

Ein Zeitarbeitnehmer wurde noch im ersten Jahr seiner Tätigkeit bei einem Zeitarbeitsunternehmen fristgemäß am 01.09.2020 zum 30.09.2020 gekündigt. Nachdem er noch einige Tage gearbeitet hatte, war er vom 07.09.2020 bis zum 30.09.2020 durchgehend krankgeschrieben. 

Der Arbeitgeber verweigerte daraufhin die Entgeltfortzahlung, die der Zeitarbeitnehmer daher einklagte. Damit hatte er vor dem Arbeitsgericht Braunschweig (Urteil vom 13.04.2021, 2 Ca 372/20) und vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen Erfolg (Urteil vom 09.05.2022, 4 Sa 505/21).

Denn da der Arbeitnehmer noch einige Tage vor Beginn der AU gearbeitet hatte, war der Beweiswert der AU-Bescheinigung nicht durch die Krankschreibung bis zum 30.09.2023 erschüttert.

Allerdings brachte der Arbeitgeber noch ein weiteres Argument gegen den Beweiswert der AU-Bescheinigung vor: Die behandelnde Ärztin hatte bei der Erstbescheinigung (vom 07.09.2020) und auch bei der Folgebescheinigung (vom 21.09.2020) jeweils den Diagnoseschlüssel „M25.51 G R“ angegeben, der für „Gelenkschmerz Schulterregion gesichert rechts“ steht.

Das war nicht in Ordnung, so jedenfalls der Arbeitgeber. Denn gemäß § 5 Abs.1 Satz 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vom 01.04.2023 (bzw. § 5 Abs.1 Satz 4 der damals geltenden Fassung der Richtlinie) sind bloße Symptome nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen.

Hier hatte der Arbeitgeber den Verdacht, dass die Ärztin möglicherweise nur die Angaben des Arbeitnehmers zu seinen Schmerzen ungeprüft weitergegeben haben könnte. Auf die ärztliche Sachkunde ist aber nur Verlass, so der Arbeitgeber, wenn die AU-Bescheinigung auf einem festgestellten objektiven Befund beruht, wie dies auch in § 5 Abs.1 Satz 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (vom 01.04.2023) festgeschrieben ist.

Im Ergebnis folgten weder das Arbeitsgericht noch das LAG dieser Argumentation.

Entscheidung des BAG

Auch in der Revision vor dem BAG hatte der Arbeitgeber kein Glück. Das BAG bestätigte die Urteile der Vorinstanzen.

Zwar kann ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vom 01.04.2023 (bzw. gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der im Streitfall geltenden Richtlinienfassung) den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern. Das könnte z.B. der Fall sein bei einer für zwei Wochen ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf der Basis von Symptomen wie Fieber oder Übelkeit.

Allerdings hatte das Arbeitsgericht, dem das LAG darin gefolgt war, unter Berücksichtigung der hier diagnostizierten Gelenkschmerzen in der rechten Schulterregion argumentiert, dass im Ergebnis gar kein Verstoß gegen die Pflicht zur Angabe von Diagnosen vorlag. Diese Bewertung war in Ordnung, so das BAG.

Denn der von der Ärztin verwendete Diagnoseschlüssel, der ICD-10 Code „M25.51 G R“, befindet sich in der Gruppe der Arthropatien (M00-M25), und dort unter der Überschrift „Sonstige Gelenkkrankheiten, anderenorts nicht klassifiziert“ (M.25.-), und zwar als Gelenkschmerz (M.25.5-). 

Die von der Ärztin verwendete Schlüsselnummer umfasst daher „Krankheiten“ und steht nicht etwa nur für ein Symptom. Das Argument des Arbeitgebers, dass die AU-Bescheinigung unter Verstoß gegen die Richtlinie ausgestellt worden sei, war daher letztlich nicht richtig.

Auch andere Umstände, die den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern könnten, lagen hier nicht vor. Dabei hatte das Arbeitsgericht die Umstände des Streitfalls umfassend bewertet und dabei auch die medizinischen Behandlungen und weiteren Untersuchungen berücksichtigt, denn der Kläger war noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen Schulterbeschwerden in ärztlicher Behandlung.

Praxishinweis

Verstößt ein Arzt bei einer AU-Bescheinigung gegen die Pflicht gemäß § 5 Abs.1 Satz 4 und 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, auf der Bescheinigung Diagnosen anzugeben, kann dieser Fehler den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern.

Allerdings gibt es eine Reihe von Erkrankungen in den Diagnoseschlüsseln des ICD-10 Codes, die als Schmerzerkrankungen ausgewiesen sind. Die Angabe eines solchen Diagnoseschlüssels ist dann nicht etwa nur die Angabe eines Symptoms (Schmerzen), sondern einer Krankheit, d.h. es liegt eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose vor.

Außerdem kann, so das BAG, nicht jeder ärztlichen Beurteilung eines vom Patienten subjektiv geschilderten Gesundheitszustandes einen Beweiswert abgesprochen werden (BAG, Urteil, Rn.32).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.06.2023, 5 AZR 335/22

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21

Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 7 SGB V (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie), i.d.F. vom 14.11.2013, zuletzt geändert am 15.12.2022, in Kraft getreten am 01.04.2023

Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification, Version 2024

 

Handbuch Arbeitsrecht: Krankheit

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