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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 11|2020

Update Arbeitsrecht 11|2020 vom 27.05.2020

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Öffentlich ausgeschriebene Stellen müssen nicht vorab intern an Schwerbehinderte vergeben werden

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.12.2019, 9 AZR 78/19

Der Beschäftigungsanspruch Schwerbehinderter steht nicht über dem Recht der Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst.

Art.33 Abs.2 Grundgesetz (GG); § 611a BGB Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); §§ 2 Abs.3, 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); §§ 241 Abs.2, 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 106 Gewerbeordnung (GewO)

Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) haben schwerbehinderte Arbeitnehmer einen besonderen Anspruch auf eine ihrer Behinderung entsprechende Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Diesen Anspruch haben auch behinderte Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 30, die einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs.3 SGB IX gleichgestellt sind.

Je nach Lage des Falles kann der Anspruch auch eine vom Arbeitsvertrag nicht gedeckte Beschäftigung beinhalten, wenn der Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit infolge seiner Behinderung nicht mehr ausüben kann.

Fraglich ist, ob der Anspruch auf Beschäftigung gemäß § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 SGB IX Arbeitgeber auch dazu verpflichtet, einen schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmer auf einer Stelle zu beschäftigen, die er zuvor öffentlich ausgeschrieben hat.

Ein solches Beschäftigungsrecht wäre nicht gut mit dem Recht der externen Bewerber auf ein faires Auswahlverfahren zu vereinbaren, d.h. mit dem sog. Bewerbungsverfahrensanspruch. Er folgt aus Art.33 Abs.2 Grundgesetz (GG). Danach hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt.

Die Frage, ob der Beschäftigungsanspruch gemäß § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 SGB IX dem Bewerbungsverfahrensanspruch vorgeht oder umgekehrt, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer aktuellen Entscheidung zugunsten des Bewerbungsverfahrensanspruchs geklärt: BAG, Urteil vom 03.12.2019 (9 AZR 78/19).

Sachverhalt

Eine im Schuldienst des Landes Thüringen beschäftigte Lehrerin war seit 2012 langfristig arbeitsunfähig erkrankt. Verschiedene Versuche der Wiedereingliederung, auch in anderen Schulen als ihrer bisherigen Stammschule, scheiterten.

Im August 2015 ergab eine amtsärztliche Untersuchung, dass mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit als Lehrerin dauerhaft nicht mehr gerechnet werden könne. Sie könne aber leichte Tätigkeiten ohne besondere Anforderungen u.a. an die nervliche Belastung ausüben.

Im Dezember 2015 teilte das Land Thüringen der Lehrerin mit, dass es zehn Stellen für die Tätigkeit als „Lehrer-Kulturagent/Kulturagentin“ ausgeschrieben habe und forderte sie auf, sich ggf. zu bewerben, was die Lehrerin tat. Während des laufenden Bewerbungsverfahrens, ab Dezember 2016, arbeitete sie als Koordinatorin für die Beschulung von Schülern mit nicht-deutscher Herkunftssprache.

Darüber hinaus erhob sie unter Berufung auf § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 SGB IX Klage auf behinderungsgerechte Beschäftigung, u.a. als „Lehrer-Kulturagentin“. Mit Wirkung vom 13.01.2016 wurde ein GdB von 30 festgestellt. Später wurde sie mit Wirkung vom 18.03.2016 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Das Arbeitsgericht Erfurt (Urteil vom 01.04.2016, 9 Ca 17/16) und das Thüringer Landesarbeitsgericht (LAG) gaben der Klage auf Beschäftigung statt (Urteil vom 27.09.2018, 4 Sa 231/16).

Entscheidung des BAG

Das BAG hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf und wies die Klage ab.

Zur Begründung verweist das BAG darauf, dass der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch unzulässig in die Organisationsgewalt des öffentlichen Arbeitgebers eingreifen würde (Urteil, Rn.25). Außerdem ist der Arbeitgeber nach erfolgter öffentlicher Ausschreibung an Art.33 Abs.2 GG gebunden (Urteil, Rn.25).

Öffentliche Arbeitgeber und Stellenbewerber brauchen, so das BAG, Klarheit darüber, in welchem Auswahlverfahren ausgeschriebene Stellen vergeben werden (Urteil, Rn.34). Müssten gleichzeitig der Beschäftigungsanspruch interner schwerbehinderter Bewerber und der Bewerbungsverfahrensanspruch regulärer Stellenbewerber erfüllt werden, würde dies zu schwierigen Vergabe- und Rückabwicklungsproblemen führen (Urteil, Rn.34).

Es bestünde die Gefahr, dass entweder der Anspruch anderer Bewerber auf chancengleiche Teilnahme am Bewerbungsverfahren vereitelt würde oder im Ergebnis eine Pflicht zur Doppelbesetzung von Stellen entstünde, was unzulässig in die Organisationsgewalt öffentlicher Arbeitgeber eingreifen würde (Urteil, Rn.34).

Praxishinweis

Öffentliche Arbeitgeber sind nicht verpflichtet, eine öffentlich bzw. unbeschränkt ausgeschriebene Stelle außerhalb des regulären Bewerbungs- und Auswahlverfahrens vorab mit einem schwerbehinderten Arbeitnehmer zu besetzen, um dadurch den Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung gemäß § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 SGB IX zu erfüllen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.12.2019, 9 AZR 78/19

 

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