Update Arbeitsrecht 18|2020 vom 02.09.2020
Entscheidungsbesprechungen
BAG kippt Kopftuchverbot nach dem Berliner Neutralitätsgesetz
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27.08.2020, 8 AZR 62/19
Das Verbot des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs gilt nur bei einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder für die staatliche Neutralität.
§ 2 Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin (Berliner Neutralitätsgesetz); §§ 1, 3, 7, 8, 15, 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); Art.4, 100 Grundgesetz (GG); § 31 Abs.1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)
Rechtlicher Hintergrund
In einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) klargestellt, dass ein Kopftuchverbot an staatlichen Schulen nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig ist, dabei aber auch betont, dass die Bundesländer bei der Schaffung solcher gesetzlichen Regelungen einen weiten Spielraum haben (BVerfG, Urteil vom 24.09.2003, 2 BvR 1436/02).
Diesen Gestaltungsspielraum für die Bundesländer, durch landesgesetzliche Regelungen das Tragen religiöser Symbole oder Kleidungsstücke an öffentlichen Schulen nach ihrem politischen Ermessen zu regeln, hat das BVerfG in einer späteren Entscheidung weitgehend wieder beseitigt. Dieser Entscheidung zufolge greift der Staat - auch auf gesetzlicher Grundlage - zu weitgehend in die Religionsfreiheit (Art.4 Grundgesetz - GG) muslimischer Lehrerinnen ein, wenn er ihnen das Kopftuch als religiös motivierte Kopfbedeckung generell verbietet. Nur im Ausnahmefall bzw. dann, wenn eine „konkrete Gefahr“ für das friedliche Miteinander an staatlichen Schulen droht, kann ein Kopftuchverbot zulässig sein (BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015, 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10).
In einem aktuellen Urteil hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Konsequenzen aus dieser BVerfG-Entscheidung gezogen und das in Berlin geltende Verbot, als Lehrkraft an öffentlichen Schulen religiös geprägte Kleidungsstücke zu tragen, weitgehend gekippt (BAG, Urteil vom 27.08.2020, 8 AZR 62/19).
Sachverhalt
Eine muslimische Informatikerin bewarb sich Anfang 2017 beim Land Berlin als Quereinsteigerin um eine Stelle als Informatik- und Mathematiklehrerin. Im Anschluss an das Bewerbungsgespräch, bei dem die Bewerberin ein Kopftuch trug, sprach sie ein Mitarbeiter des Landes Berlin auf das Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin (Berliner Neutralitätsgesetz) an, das es Lehrkräften an öffentlichen Schulen generell verbietet, im Dienst religiös geprägte Kleidungsstücke zu tragen. Die Klägerin erklärte daraufhin, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen. § 2 Berliner Neutralitätsgesetz lautet:
„Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.“
Nachdem die Bewerberin in der Folgezeit weder eine Zu- noch eine Absage erhalten hatte, verlangte sie eine Geldentschädigung wegen religionsbedingter Diskriminierung gemäß § 15 Abs.2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), da sie davon ausging, wegen ihres Kopftuchs und damit wegen ihrer Religion nicht eingestellt worden zu sein.
Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab (Urteil vom 24.05.2018, 58 Ca 7193/17), während das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg ihr eine Entschädigung von 1,5 Gehältern bzw. von 5.159,88 EUR zusprach (Urteil vom 27.11.2018, 7 Sa 963/18).
Entscheidung des BAG
Auch das BAG urteilte zugunsten der Bewerberin und wies die Revision des Landes Berlin daher zurück. Zur Begründung heißt es in der derzeit allein vorliegenden Pressemitteilung des BAG:
Der mündliche Hinweis auf das landesgesetzliche Kopftuchverbot nach Abschluss des Vorstellungsgesprächs war im Streitfall ein Indiz für eine religionsbedingte Benachteiligung im Sinne von § 22 AGG. Daher war zu vermuten, dass die Nicht-Einstellung bzw. Benachteiligung der Klägerin ihren Grund in ihrer Religion hatte. Diese Vermutung einer religionsbedingte Diskriminierung (§§ 1, 3, 7 AGG) hatte das Land im Prozess nicht widerlegen können.
Das generelle Kopftuchverbot gemäß § 2 Satz 1 Berliner Neutralitätsgesetz ließ das BAG nicht als Rechtfertigung einer ungünstigeren Behandlung der Klägerin gemäß § 8 Abs.1 AGG gelten. Denn nach der o.g. Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Beschluss vom 27.01.2015, 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10), an die das BAG gemäß § 31 Abs.1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) gebunden ist, führt § 2 Berliner Neutralitätsgesetz zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art.4 GG, wenn Kopftücher im Dienst generell bzw. ohne Ausnahme verboten sind.
Daher ist § 2 Berliner Neutralitätsgesetz, so das BAG, im Wege der verfassungskonformen Auslegung einschränkend so zu verstehen, dass das Verbot eines sog. islamischen Kopftuchs nur bei einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder für die staatliche Neutralität gilt. Eine solche konkrete Gefahr hatte das Land Berlin vor Gericht nicht belegen können und daher den Prozess verloren.
Praxishinweis
Auf der Grundlage der o.g. Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2015 dürfen muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen ein Kopftuch tragen und damit ihre Zugehörigkeit zum Islam ausdrücken. Daher konnte das BAG den Fall nicht anders entscheiden.
Kritisch ist anzumerken, dass der Berliner Gesetzgeber mit § 2 Berliner Neutralitätsgesetz eine bewusste Entscheidung für ein generelles Verbot religiöser Symbole und Kleidungsstücke getroffen hat. Die vom BAG „verfassungskonforme Auslegung“ dieser Vorschrift durch das BAG ist daher letztlich eine komplette Aufhebung dieser (im Lichte der BVerfG-Rechtsprechung wahrscheinlich verfassungswidrigen) Gesetzesvorschrift. Die Befugnis, eine nach Inkrafttreten des GG erlassene Gesetzesvorschrift wegen eines Verstoßes gegen das GG für verfassungswidrig zu erklären, steht aber gemäß Art.100 Abs.1 GG nur dem BVerfG zu. Daher hätte das BAG den Fall dem BVerfG vorlegen müssen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27.08.2020, 8 AZR 62/19
Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts
Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierung - Rechte Betroffener
Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierungsverbote - Religion oder Weltanschauung
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