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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 19|2020

Update Arbeitsrecht 19|2020 vom 16.09.2020

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Eine Entschädigung von 1,5 Gehältern ist im Normalfall angemessen bei einer Diskriminierung von Stellenbewerbern

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.05.2020, 8 AZR 170/19

Die Entschädigung gemäß § 15 Abs.2 AGG setzt kein Verschulden voraus, doch kann ein höherer Grad von Verschulden zu einer höheren Entschädigung führen.

§§ 1, 3, 6 Abs.1 Satz 2, 7 Abs.1, 2 Abs.1 Nr.1, 15, 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); §§ 154 Abs.1, 165 Satz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)

Rechtlicher Hintergrund

Diskriminierungen im Beruf, z.B. wegen des Geschlechts, der Religion oder wegen einer Behinderung, sind nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verboten (§§ 1, 3, 7 Abs.1 AGG). Daher müssen Arbeitgeber bei der Ausschreibung und Vergabe freier Stellen Bewerberinnen und Bewerber diskriminierungsfrei behandeln (§§ 11, 6 Abs.1 Satz 2, 7 Abs.1, 2 Abs.1 Nr.1 AGG).

Andernfalls haben diskriminierte Bewerber einen Anspruch auf Schadensersatz (§ 15 Abs.1 Satz 1 AGG). Dies gilt nur ausnahmsweise nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat (§ 15 Abs.1 Satz 2 AGG). Zum materiellen Schaden gehört insbesondere der durch die Nicht-Einstellung entgangene Verdienst.

Darüber hinaus sind Arbeitgeber verpflichtet, diskriminierten Bewerbern eine angemessene Geldentschädigung wegen des erlittenen immateriellen Schadens zu zahlen (§ 15 Abs.2 Satz 1 AGG). Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der Bewerber auch bei korrekter Auswahl nicht eingestellt worden wäre (§ 15 Abs.2 Satz 2 AGG).

Nach der Rechtsprechung muss die Höhe der Geldentschädigung der Schwere der Diskriminierung entsprechen. Sie muss einerseits abschreckend, andererseits verhältnismäßig sein. Da der Anspruch auf Entschädigung vom Verschulden des Arbeitgebers unabhängig ist, darf die Geldentschädigung nicht deshalb geringer sein, weil den Arbeitgeber kein oder nur ein geringes Verschulden trifft. Umgekehrt kann ein höherer Verschuldensgrad aber zu einer höheren Entschädigung führen.

Wie hoch eine Geldentschädigung „im Normalfall“ sein sollte, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) bislang nicht geklärt. In einer aktuellen Entscheidung hat es aber, jedenfalls für den Fall der Diskriminierung eines Stellenbewerbers, eine Geldentschädigung von 1,5 Monatsgehältern als normalerweise angemessen angesehen (BAG, Urteil vom 28.05.2020, 8 AZR 170/19).

Sachverhalt

Eine gesetzliche Krankenkasse, die auf mehr als fünf Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen beschäftigte, schrieb 2017 eine auf zwei Jahre befristete Stelle als „Mitarbeiter DRG-Abrechnung und Qualitätssicherung (m/w)“ aus. In der Ausschreibung hieß es, dass Bewerbungen von Schwerbehinderten „ausdrücklich erwünscht“ seien.

Ein Bewerber, der über langjährige einschlägige Berufserfahrungen verfügte, bewarb sich auf die Stelle unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50. Entgegen der für öffentliche Arbeitgeber geltenden Pflicht, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 165 Satz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX), lehnte die Krankenkasse dem Bewerber ohne Vorstellungsgespräch ab, wobei sie ihn in einem freundlich gehaltenen Absageschreiben ermunterte, sich bei Gelegenheit erneut zu bewerben.

Da die unterlassene Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers zum Vorstellungsgespräch durch einen öffentlichen Arbeitgeber ein sog. Diskriminierungsindiz im Sinne von § 22 AGG ist, klagte der Bewerber auf Schadensersatz sowie auf eine Diskriminierungsentschädigung. Damit hatte er vor dem Arbeitsgericht Hannover (Urteil vom 26.01.2018, 13 Ca 69/17 Ö ) und vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen nur mäßigen Erfolg (LAG Niedersachsen, Urteil vom 16.01.2019, 14 Sa 246/18).

Denn unter Berücksichtigung der „Übererfüllung“ der gesetzlichen Beschäftigungsquote von fünf Prozent (§ 154 Abs.1 SGB IX), des Wortlauts der Stellenausschreibung und des freundlichen Absageschreibens ließ das LAG Milde walten und verurteilte die Krankenkasse nur zu einer Entschädigung von 1.000 EUR, obwohl die Stelle mit einem Gehalt von 3.383 EUR brutto verbunden war. Außerdem hielt das LAG der Krankenkasse zugute, dass sie dem Kläger in dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht eine alternative Beschäftigung angeboten hatte.

Entscheidung des BAG

Das BAG sprach dem Kläger eine höhere Abfindung zu, nämlich von 5.100 EUR, was ungefähr 1,5 Gehältern entspricht. Dabei machten die Erfurter Richter deutlich, dass die vom LAG zugunsten der Krankenkasse angestellten Überlegungen von § 15 Abs.2 AGG nicht gedeckt sind.

Seine eigene Festsetzung der Entschädigung begründet das BAG wie folgt: Mit einer Entschädigung von ca. 1,5 Bruttogehältern wird der Kläger angemessen für den immateriellen Schaden entschädigt, den er durch die Diskriminierung (ausschließlich) wegen seiner (Schwer-)Behinderung erlitten hatte (Urteil, Rn.39). Dieser Betrag ist erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen, so das BAG.

Sollte der Krankenkasse (wie vom LAG angenommen) nur ein geringerer Verschuldensgrad oder kein Verschulden anzulasten sein, kann das nicht zu einer Herabsetzung der Entschädigung führen, da der Entschädigungsanspruch verschuldensunabhängig ist. Andererseits waren hier auch keine Umstände erkennbar, die einen höheren Verschuldensgrad belegten, weshalb auch kein Grund für eine Heraufsetzung der Entschädigung bestand (Urteil, Rn.39).

Schließlich ist die Grenze von drei Monatsgehältern (§ 15 Abs.2 Satz 2 AGG) nicht in allen Fällen eine Obergrenze der Entschädigung (wie vom LAG angenommen), sondern vielmehr eine Kappungsgrenze, deren Voraussetzungen der Arbeitgeber zu beweisen hat (Urteil, Rn.22, 30).

Praxishinweis

In der Regel verlangen abgelehnte Stellenbewerber, die sich auf Indizien für eine mögliche Diskriminierung berufen können und daher eine Geldentschädigung einklagen, zunächst einmal drei oder mehr Monatsgehälter. Diese Vorgehensweise wird durch das vorliegende BAG-Urteil bestätigt, vorausgesetzt, die Klägerseite kann - abgesehen von (mindestens) einem Diskriminierungsindiz - weitere erschwerende Begleitumstände anführen.

Hier hat das BAG zurecht darauf hingewiesen, dass ein höfliches Ablehnungsschreiben (wie hier im Streitfall) eine Selbstverständlichkeit ist und daher neutral zu bewerten ist, dass aber umgekehrt eine unhöfliche Absage zu einer erhöhten Entschädigung führen kann (Urteil, Rn.31).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.05.2020, 8 AZR 170/19

 

Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierung - Rechte Betroffener

Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierungsverbote - Behinderung

Handbuch Arbeitsrecht: Schwerbehinderung, schwerbehinderter Mensch

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