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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 20|2023

Update Arbeitsrecht 20|2023 vom 04.10.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Schwerbehinderte Bewerber können die Information des Betriebsrats über ihre Bewerbung vor Gericht schlicht bestreiten

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14.06.2023, 8 AZR 136/22

Die bloße Vermutung, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat oder die Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung eines Schwerbehinderten nicht unterrichtet hat, genügt zur Darlegung von Diskriminierungsindizien.

§§ 1, 2, 3, 6, 7, 15, 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); §§ 164, 176 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)

Rechtlicher Hintergrund

Benachteiligungen im Erwerbsleben wegen einer Behinderung, z.B. bei der Bewerbung um eine offene Stelle, sind nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verboten (§§ 1; 2 Abs.1 Nr.3; 3 Abs.1, 2; 6 Abs.1 Satz 2; 7 Abs.1 AGG).

Um potentielle Diskriminierungsopfer bei der gerichtlichen Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen, insbesondere bei Klagen auf finanzielle Kompensationen gemäß § 15 Abs.1, 2 AGG, sieht § 22 AGG eine Beweiserleichterung vor. 

Danach muss das - potentielle - Diskriminierungsopfer vor Gericht lediglich Indizien beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines gesetzlich verbotenen Unterscheidungsmerkmals vermuten lassen, z.B. wegen einer Behinderung. Gelingt dem Kläger der Beweis solcher Diskriminierungsindizien, trägt der Beklagte die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen den gesetzlichen Diskriminierungsschutz vorgelegen hat.

Ein Diskriminierungsindiz im Sinne von § 22 AGG ist z.B. der Verstoß des Arbeitgebers gegen seine gesetzliche Pflicht, den Betriebsrat und - falls vorhanden - die Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen zu unterrichten. 

Die Informationspflicht ist in § 164 Abs.1 Satz 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) festgeschrieben und soll die Chancen schwerbehinderter Bewerber bei der Stellenbesetzung verbessern. 

Ein Verstoß gegen die Informationspflicht gemäß § 164 Abs.1 Satz 4 SGB IX ist anerkanntermaßen ein Diskriminierungsindiz. Allerdings musste ein abgelehnter schwerbehinderter Bewerber, der sich auf einen Verstoß des Arbeitgebers gegen diese Pflicht berufen wollte, diesen Pflichtverstoß nach bisheriger Rechtsprechung beweisen.

Denn in § 22 AGG heißt es ausdrücklich, dass - potentielle - Diskriminierungsopfer vor Gericht Indizien (Vermutungstatsachen) für eine Diskriminierung beweisen müssen, d.h. es genügte bislang nicht, Vermutungstatsachen ihrerseits lediglich zu vermuten.

Diese Rechtsprechung hat das BAG in einer aktuellen Entscheidung zugunsten schwerbehinderter Bewerber geändert: BAG, Urteil vom 14.06.2023, 8 AZR 136/22.

Sachverhalt

Ein schwerbehinderter promovierter Wirtschaftswissenschaftler bewarb sich unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung im August 2019 bei einem größeren Beratungsunternehmen auf eine von diesem ausgeschriebene Stelle eines „Scrum Master Energy (m/w/d)“. 

Nach Erhalt eines Absageschreibens am 22.08.2019 verlangte der Bewerber innerhalb der gesetzlichen Zweimonatsfrist (§ 15 Abs.4 AGG) eine Geldentschädigung gemäß § 15 Abs.2 AGG aufgrund einer - von ihm behaupteten - Diskriminierung wegen seiner Behinderung.

Vor Gericht berief er sich darauf, dass das Unternehmen - angeblich - seine Förderungspflichten gemäß § 164 Abs.1 SGB IX verletzt habe, und insbesondere den Betriebsrat entgegen § 164 Abs.1 Satz 4 SG IX nicht über den Eingang seiner Bewerbung informiert habe. 

Das Unternehmen trug zur Information des Betriebsrats über den Eingang der Bewerbung nichts weiter vor, sondern berief sich darauf, dass der Kläger diesen Pflichtverstoß „ins Blaue hinein“ vorgetragen hatte, d.h. ohne dass es dafür irgendwelche konkreten Anhaltspunkte im Streitfall gab.

Das Arbeitsgericht Hamburg (Urteil vom 02.09.2020, 28 Ca 142/20) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg wiesen die Klage ab (LAG Hamburg, Urteil vom 02.07.2021, 2 Sa 58/20).

Entscheidung des BAG

Das BAG ließ zunächst die vom LAG Hamburg nicht zugelassene Revision nachträglich zu und gab ihr dann statt. Dabei verurteilte es das Unternehmen zur Zahlung einer Entschädigung von 1,5 Monatsgehältern bzw. von 7.500,00 EUR.

Denn der Kläger war, so das BAG, wegen seiner Schwerbehinderung im Sinne von § 3 Abs.1 AGG benachteiligt worden (BAG, Urteil, Rn.24). 

Dabei ging das BAG davon aus, dass das beklagte Unternehmen den Betriebsrat unter Verstoß gegen § 164 Abs.1 Satz 4 SGB IX über die Bewerbung des Klägers nicht unmittelbar nach deren Eingang unterrichtet hatte (BAG, Urteil, Rn.25). Dies begründete die Vermutung einer behinderungsbedingten Diskriminierung des Klägers.

Der Kläger konnte vor Gericht behaupten, dass das Unternehmen den Betriebsrat unter Verstoß gegen § 164 Abs.1 Satz 4 SGB IX nicht unterrichtet habe, obwohl er dies nur vermutete (BAG, Urteil, Rn.32). 

Denn mangels eigener Erkenntnisquellen hatte der Kläger keine sichere Kenntnis von einer fehlenden ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats und konnte diese Kenntnis auch nicht erlangen (BAG, Urteil, Rn.32).

Hierbei handelte es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des beklagten Unternehmens, in die der Kläger keinen Einblick hatte und sich einen solchen Einblick auch nicht in zumutbarer Weise verschaffen konnte (BAG, Urteil, Rn.32).

Hier erörtert das BAG verschiedene Möglichkeiten, sich zu informieren, u.a. eine mögliche Befragung des Betriebsrats bzw. des Betriebsratsvorsitzenden sowie ein gegen das Unternehmen gerichtetes Auskunftsverlangen. Solche Versuche der Sachverhaltsaufklärung bewertet das BAG als untauglich und/oder unzumutbar (BAG, Urteil, Rn.33-35).

Die ohne konkrete Anhaltspunkte im Prozess aufgestellte Behauptung des Klägers, das beklagte Unternehmen habe den Betriebsrat über seine Bewerbung nicht informiert, war daher „bei wertender Betrachtung“, so das BAG, nicht als eine Behauptung „ins Blaue hinein“ anzusehen (BAG, Urteil, Rn.36).

Praxishinweis

Das Urteil, mit dem der Achte BAG-Senat seine bisherige Rechtsprechung zu § 22 AGG zugunsten der Klägerseite weitgehend ändert, kann nicht überzeugen. 

Denn infolge dieser Entscheidung muss ein - mögliches (!) - Diskriminierungsopfer vor Gericht bestimmte Diskriminierungsindizien entgegen § 22 AGG nicht mehr beweisen. 

Vielmehr genügt es, solche Indizien ohne konkreten Tatsachenhintergrund zu vermuten bzw. abstrakt zu behaupten. Ein solcher Vortrag wird üblicherweise - entgegen den gegenteiligen Ausführungen des BAG - als Behauptung „ins Blaue hinein“ bezeichnet.

Arbeitgeber müssen sich so oder so auf diese geänderte Rechtsprechung einstellen. 

Daher sollten Stellenausschreibungen sowie der anschließende Umgang mit eingehenden Bewerbungen in allen Einzelheiten dokumentiert und die Dokumentationen so lange aufbewahrt werden, bis die Zweimonatsfrist des § 15 Abs.4 AGG (gerechnet ab der Übersendung der Ablehnungsschreiben) abgelaufen ist.

Auf dieser Grundlage müssen Arbeitgeber in Prozessen um eine Diskriminierungsentschädigung künftig den Nachweis führen, dass sie alle theoretisch möglichen und vom Kläger rein textbausteinmäßig beanstandeten Verfahrensfehler nicht begangen haben.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14.06.2023, 8 AZR 136/22

Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 02.07.2021, 2 Sa 58/20

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