Update Arbeitsrecht 23|2020 vom 11.11.2020
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Ein freigestellter Betriebsratsvorsitzender kann während einer Krankschreibung keine Sitzungen einberufen
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28.07.2020, 1 ABR 5/19
Während einer ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ist ein dauernd freigestelltes Betriebsratsmitglied an der Wahrnehmung seiner Aufgaben und Befugnisse verhindert.
§§ 25, 26, 29 Abs.2, 33, 38, 99 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
Rechtlicher Hintergrund
Der Betriebsrat entscheidet durch Beschlüsse, die er in seinen Sitzungen fasst. Dazu ist gemäß § 33 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) die Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder erforderlich. Außerdem muss der Betriebsrat beschlussfähig sein, was voraussetzt, dass mindestens die Hälfte der Betriebsratsmitglieder an der Beschlussfassung teilnimmt (§ 33 Abs.2 BetrVG).
Ist ein Betriebsratsmitglied vorübergehend verhindert, z.B. infolge einer Erkrankung oder während eines Urlaubs, wird es bei der Sitzung und Beschlussfassung durch ein Ersatzmitglied vertreten (§ 25 Abs.1 Satz 2 BetrVG).
Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Beschlusses ist außerdem, dass Zeit und Ort der Betriebsratssitzung verbindlich festgelegt und die Betriebsratsmitglieder geladen werden. Einberufung einer Sitzung und Ladung der Betriebsratsmitglieder sind gemäß § 29 Abs.2 Satz 1 und 3 BetrVG Aufgabe des Betriebsratsvorsitzenden bzw. des Stellvertreters (§ 26 Abs.1 BetrVG).
Ist ein Mitglied des Betriebsrats arbeitsunfähig erkrankt, kann das dazu führen, dass es an der Ausübung seiner Aufgaben und Befugnisse verhindert ist, d.h. die Arbeitsunfähigkeit kann zur Amtsunfähigkeit führen. Das muss aber nicht sein. Denn wer seine Aufgaben als Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht erfüllen kann, ist möglicherweise trotzdem in der Lage, seine ehrenamtlichen Aufgaben als Betriebsrat auszuüben.
Aber gilt das auch für ein Betriebsratsmitglied, das gemäß § 38 BetrVG vollständig von der Arbeit freigestellt ist? Nein, so das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer aktuellen Entscheidung (Beschluss vom 28.07.2020, 1 ABR 5/19).
Sachverhalt
Der Arbeitgeber bat den Betriebsrat vor dem Hintergrund eines bevorstehenden Betriebsübergangs und des damit verbundenen Tarifwechsels um Zustimmung zur Ein- bzw. Umgruppierung der Arbeitnehmer gemäß § 99 BetrVG.
Da der gemäß § 38 BetrVG freigestellte Vorsitzende erkrankt und sein Stellvertreter im Urlaub war, berief ein weiteres Mitglied des neunköpfigen Betriebsrats, Herr P., eine Sitzung ein und lud die Betriebsratsmitglieder dazu über den passwortgeschützten E-Mail-Account des Vorsitzenden ein. In der E-Mail hieß es: „Bitte schreibt mir kurz ob ich mit Eurer Teilnahme rechnen darf, damit Ersatzmitglieder geladen werden können. Liebe Grüße P.“
An der Sitzung nahmen die sieben eingeladenen Betriebsratsmitglieder teil, und auch der Vorsitzende war anwesend, aber nur als Gast, d.h. er nahm an der Beschlussfassung nicht teil. Der stellvertretende Vorsitzende war nicht anwesend. Die sieben übrigen Betriebsratsmitglieder waren erschienen und beschlossen einstimmig, die Zustimmung zu der vom Arbeitgeber erbetenen Zustimmung zur Ein- bzw. Umgruppierung zur verweigern.
Da Arbeitgeber und Betriebsrat schon länger über die bevorstehende Ein- bzw. Umgruppierung diskutierten, hatten sich die sieben Betriebsratsmitglieder bei ihrer Zusammenkunft auf eine ihnen schon vorab vorliegende Liste mit Arbeitnehmern und beabsichtigten Eingruppierungen bezogen, mit der sie nicht einverstanden waren. Das offizielle Schreiben des Arbeitgebers mit der Bitte um Zustimmung erreichte den Betriebsrat aber erst einen Tag später.
Der Arbeitgeber nahm die Eingruppierungen wie angekündigt vor, ohne ein arbeitsgerichtliches Verfahren auf Zustimmungsersetzung gemäß § 99 Abs.4 BetrVG einzuleiten. Daraufhin zog der Betriebsrat vor Gericht mit dem (bei Eingruppierungsstreitigkeiten richtigen) Antrag, dem Arbeitgeber aufzugeben, das Zustimmungsersetzungsverfahren gemäß § 99 Abs.4 BetrVG bezüglich der umstrittenen Eingruppierungen einzuleiten.
Das Arbeitsgericht Ulm (Beschluss vom 08.09.2017, 6 BV 14/15) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg wiesen den Antrag des Betriebsrats ab (Beschluss vom 05.12.2018, 10 TaBV 1/18).
Entscheidung des BAG
Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Denn der vom Betriebsrat in seiner Sitzung gefasste Beschluss, die Zustimmung zu der Eingruppierung zu verweigern, war nichtig. Das wiederum lag daran, dass es keine ordnungsgemäße Einberufung der Betriebsratssitzung und keine ordnungsgemäße Ladung der Mitglieder gemäß § 29 Abs.2 Satz 1 und Satz 3 BetrVG gab.
Denn freigestellte Betriebsratsmitglieder, wie hier der Vorsitzende, sind während einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vollständig amtsunfähig, d.h. sie können ihre Aufgaben und Befugnisse als Betriebsrat nicht ausüben (BAG, Leitsatz, Rn.32). Daher konnte der Betriebsratsvorsitzende die Sitzung nicht einberufen und auch keine Ladungen verschicken, was er ja auch nicht tat. Hier sprang vielmehr ein anderes Betriebsratsmitglied ein. Dieses Betriebsratsmitglied war aber nicht Stellvertreter des Vorsitzenden und daher nicht dazu befugt, eine Sitzung einzuberufen und die anderen Mitglieder zu laden.
Der Betriebsrat hatte zwar argumentiert, der Vorsitzende sei angeblich beim Versenden der streitigen E-Mail anwesend gewesen, so dass der Betriebsratskollege P. als verlängerter Arm bzw. Bote des Vorsitzenden tätig gewesen sei. Das Argument half dem Betriebsrat aber nicht. Denn da der Vorsitzende arbeitsunfähig und daher amtsunfähig war, konnte er die Einberufung und Ladung auch nicht aus dem Hintergrund steuern.
Praxishinweis
Betriebsräte sollten zum Nachweis einer ordnungsgemäßen Beschlussfassung nicht nur die Protokolle der Sitzungen, sondern immer auch die Einladungen zu der betreffenden Betriebsratssitzung dokumentieren, d.h. die Einladungsschreiben mit den dazugehörigen Tagesordnungspunkten (TOPs). Ist bekannt, dass Mitglieder wegen Krankheit, Urlaub oder Mutterschutz verhindert sind, sind die Nachrücker zu laden. Zwischen Ladung und Sitzung sollten im Allgemeinen (mindestens) 24 Stunden liegen.
Arbeitgeber sollten diesen notwendigen Vorlauf einer ordnungsgemäßen Beschlussfassung im Zweifel überprüfen. Denn ob eine ordnungsgemäße Beschlussfassung des Betriebsrats vorliegt, entscheidet darüber, ob und ggf. welche weiteren rechtlichen Erklärungen abzugeben sind und ob ggf. rechtliche Schritte einzuleiten sind.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28.07.2020, 1 ABR 5/19
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratsmitglied
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