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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 03|2021

Update Arbeitsrecht 03|2021 vom 10.02.2021

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Diskriminierungsvermutung bei Lohnrückstand gegenüber Vergleichsarbeitnehmern

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.01.2021, 8 AZR 488/19

Erteilt der Arbeitgeber Auskunft über höhere Gehälter von Vergleichsarbeitnehmern des jeweils anderen Geschlechts, besteht die Vermutung einer Entgeltbenachteiligung „wegen des Geschlechts“, die der Arbeitgeber widerlegen muss.

§§ 3, 11 Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG); § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Betrieben mit über 200 Beschäftigten können vom Arbeitgeber gemäß § 10 Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) Auskunft über das Gehalt vergleichbarer Beschäftigter des jeweils anderen Geschlechts verlangen. Dazu muss für jeden Vergleichsarbeitnehmer das Durchschnittsgehalt errechnet und - bei Teilzeitkräften - „auf Vollzeitäquivalente hochgerechnet“ werden (§ 11 Abs.3 Satz 2 EntgTranspG), und der Arbeitgeber muss zu ein bis zwei Vergütungsbestandteilen (wie z.B. Zulagen oder Einmalzahlungen) Auskunft erteilen (§ 10 Abs.1 Satz 3 EntgTranspG).

Im nächsten Schritt sind die Vergleichsarbeitnehmer nach ihrem Gehalt in eine Rangfolge bringen, denn der Arbeitgeber muss nicht etwa über den Durchschnitt der Gehälter der Vergleichsarbeitnehmer Auskunft erteilen, sondern über den sog. Medianwert (§ 11 Abs.3 Satz 2 EntgTranspG).

Der Median-Arbeitnehmer (bzw. sein Gehalt) ist dann derjenige, der in der Gehaltsrangfolge genau in der Mitte steht. Bei neun Vergleichsarbeitnehmern wäre es Arbeitnehmer Nr.5, denn er verdient einerseits mehr als vier seiner Kollegen, andererseits aber auch weniger als vier andere Kollegen, die in der Gehaltsrangfolge über ihm stehen. Der Medianwert ist bei Einkommensvergleichen oft geringer als der Durchschnitt, da oft einige besonders gut verdienende Personen den Durchschnitt nach oben ziehen.

Fraglich ist, ob es bereits ein Indiz für eine geschlechtsbedingte Lohndiskriminierung von Frauen im Sinne von § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist, wenn sich aus der Auskunft des Arbeitgebers gemäß §§ 10, 11 EntgTranspG ergibt, dass das Median-Gehalt der männlichen Vergleichsarbeitnehmer höher ist als das Gehalt einer Arbeitnehmerin, die um Auskunft gebeten hat. Kann man aus solchen abstrakten Zahlen bereits die Vermutung ableiten, dass hier eine Gehaltsbenachteiligung „wegen des Geschlechts“ vorliegt (§ 3 Abs.2 Satz 1 EntgTranspG)?

Im Oktober 2019 berichteten wir über einen vom Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen entschiedenen Fall, bei der eine Abteilungsleiterin unter Verweis auf die höhere Bezahlung männlicher Kollegen Gehaltsrückstände einklagte, womit sie vor dem LAG keinen Erfolg hatte (LAG Niedersachsen, Urteil vom 01.08.2019, 5 Sa 196/19, s. dazu Update Arbeitsrecht 03|2019 vom 30.10.2019). Denn das LAG meinte, dass hier keine Entgeltdiskriminierung „wegen des Geschlechts“ vorlag. Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) das LAG wegen der Begründung seiner Entscheidung gerüffelt und den Fall zum LAG zurückverwiesen (BAG, Urteil vom 21.01.2021, 8 AZR 488/19).

Sachverhalt

Im Streitfall hatte eine seit 1989 beschäftigte Angestellte geklagt, die im April 2012 zur Abteilungsleiterin befördert worden war. Daher bekam sie, wie üblich im Betrieb des Arbeitgebers, nicht mehr wie bisher ein Tarifgehalt, sondern ein außertarifliches Gehalt auf Basis ihrer zuletzt bezogenen Tarifvergütung, und außerdem eine Zulage. Wie bei anderen Abteilungsleitern wurde alle zwei bis drei Jahre über eine Anpassung des Gehalts gesprochen, wobei der Arbeitgeber Tariflohnerhöhungen an die außertariflichen Angestellten weitergab.

Die Klägerin bekam zum 01.04.2013 und dann noch einmal zum 01.04.2015 eine Gehaltserhöhung. Eine turnusmäßig zu erwartende Gehaltserhöhung zum 01.04.2017 blieb aus, weil die Parteien über die Leistungen bzw. das Führungsverhalten der Klägerin uneinig waren. Ende Januar 2019 betrug die Grundvergütung der Klägerin 5.385,40 EUR brutto und ihre Zulage 500,00 EUR brutto. Ab Februar 2019 belief sich die Grundvergütung auf 5.688,90 EUR brutto und die Zulage auf 550,00 EUR brutto.

Nachdem die Klägerin Auskunft über das Vergleichsentgelt männlicher Abteilungsleiter verlangt hatte, ergab die Antwort des Arbeitgebers folgendes Bild: Bei den männlichen Abteilungsleitern, die wie die Klägerin 2012 zum Abteilungsleiter befördert worden waren, erhielt der Median-Arbeitnehmer 259,60 EUR brutto mehr als die Klägerin. In der Gruppe aller männlichen Abteilungsleiter, die teilweise schon seit Jahrzehnten diese Tätigkeit ausübten, erhielt der Median-Arbeitnehmer 1.006,60 EUR brutto mehr.

Die Differenz zu dem Mediangehalt aller männlichen Abteilungsleiter klagte die Angestellte für sechs Monate ein (August 2018 bis Januar 2019), insgesamt 6.039,60 EUR brutto. Das Arbeitsgericht Göttingen gab der Zahlungsklage statt (Urteil vom 29.01.2019, 1 Ca 194/18 Ö), während das LAG Niedersachsen wie erwähnt gegen die Klägerin entschied (Urteil vom 01.08.2019, 5 Sa 196/19).

Entscheidung des BAG

Das BAG hob das Urteil des LAG Niedersachsen auf und verwies den Fall an das LAG zurück, das den Sachverhalt jetzt noch einmal genauer überprüfen muss. In der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung des BAG heißt es zur Begründung:

Erteilt der Arbeitgeber eine Auskunft über das Vergleichsgehalt der maßgeblichen männlichen Vergleichsperson(en), dann sagt er damit zugleich auch, dass dieses Vergleichsgehalt für gleiche bzw. gleichwertige Tätigkeit gezahlt wird. Daher wurde die Klägerin, so das BAG, gegenüber ihrem männlichen Vergleichskollegen unmittelbar benachteiligt im Sinne von § 3 Abs.2 Satz 1 EntgTranspG, und zwar einfach deshalb, weil ihr Gehalt geringer war als das des Vergleichskollegen. Der Gehaltsunterschied an sich begründet also bereits die rechtliche Vermutung einer Entgeltbenachteiligung „wegen des Geschlechts“, so das BAG.

Somit ist es jetzt Aufgabe des Arbeitgebers, diese Vermutung zu widerlegen, wobei das BAG auf die Beweislastregel des § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verweist. Danach muss der Arbeitgeber den (umfassenden) Nachweis führen, dass „kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat“.

Praxishinweis

Mit seinem Grundsatzurteil weicht das BAG von der bisher herrschenden Meinung in der juristischen Literatur ab, der zufolge abstrakte Gehaltsunterschiede als solche noch kein Indiz für eine geschlechtsbedingte Lohndiskriminierung sind.

Das wesentliche Argument des BAG lautet, soweit man das der Pressemeldung entnehmen kann, dass der Arbeitgeber ja selbst durch die Angabe einer Median-Vergleichsperson bzw. eines Median-Vergleichsgehalts sinngemäß sagt, dass dieses Gehalt „für gleiche bzw. gleichwertige Tätigkeit“ gezahlt wird, d.h. dass es keine sachlichen Unterschiede der Tätigkeiten gibt, die eine unterschiedliche Bezahlung rechtfertigen.

Arbeitgeber werden daher künftig genauer prüfen müssen, ob (außertarifliche) Arbeitnehmer, die eine bestimmte Tätigkeit z.B. schon 20 Jahre länger verrichten als andere und daher infolge vergangener Gehaltserhöhungen mehr verdienen, nicht auch bestimmte zusätzliche Aufgaben und/oder Verantwortungen haben, die dazu führen, dass die Arbeit eben nicht „gleichwertig“ ist.

Möglicherweise werden die Gerichte auch bei der Entkräftung der Diskriminierungsvermutung großzügiger verfahren als in anderen Fällen des § 22 AGG, und z.B. das Argument gelten lassen, dass eine lange Berufserfahrung oder die Übernahme von Arbeitnehmern durch einen Betriebsübergang sachliche Gründe dafür sein können, dass eine gleichwertige Arbeit verschieden bezahlt wird.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.01.2021, 8 AZR 488/19

 

Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierung - Rechte Betroffener

Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierungsverbote - Geschlecht

Handbuch Arbeitsrecht: Lohn und Gehalt

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