Update Arbeitsrecht 23|2023 vom 15.11.2023
Entscheidungsbesprechungen
Hessisches LAG: Fristlose Verdachtskündigung auf der Grundlage eines Durchsuchungsbeschlusses
Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 30.06.2023, 8 Sa 388/22
Eine Anhörung zu dem Verdacht strafbarer arbeitsvertraglicher Pflichtverletzungen kann der Arbeitgeber unter Bezugnahme auf einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss vornehmen, falls dieser dem Arbeitnehmer bekannt ist.
§ 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); §§ 1 Abs.2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.103 Abs.1 Grundgesetz (GG); § 138 Abs.3 Zivilprozessordnung (ZPO)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 626 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) kann das Arbeitsverhältnis aus einem „wichtigen Grund“ außerordentlich und fristlos gekündigt werden. Das ist der Fall, wenn Tatsachen vorliegen, die dem kündigenden Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls die Einhaltung der Kündigungsfrist unzumutbar machen.
Eine außerordentliche fristlose Kündigung kann nicht nur auf erhebliche Pflichtverstöße wie z.B. auf Straftaten zulasten des Arbeitgebers, von Kollegen oder von Kunden gestützt werden, sondern auch auf einen dringenden Verdacht, dass der Gekündigte derartige Pflichtverstöße begangen hat.
Voraussetzung ist ein dringender bzw. „erdrückender“ Verdacht, sowie die vorherige Anhörung des verdächtigten Vertragspartners. In aller Regel werden Verdachtskündigungen vom Arbeitgeber erklärt.
Durch die Anhörung soll dem verdächtigten Arbeitnehmer die Chance gegeben werden, die Verdachtsmomente zu entkräften. Dabei muss sich der Arbeitgeber Mühe geben, den wahren Sachverhalt herauszufinden. Nennt der angehörte Arbeitnehmer entlastende Umstände, muss der Arbeitgeber sie überprüfen und je nach dem Ergebnis der Überprüfung eine weitere Anhörung vornehmen.
In einem aktuellen Fall, über den das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) zu entscheiden hatte, ging es um die Frage, ob sich der Arbeitgeber bei der Anhörung des Arbeitnehmers auf einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss beziehen kann.
Leitet der Arbeitgeber eine korrekte Anhörung des Arbeitnehmers ein, indem er ihn auffordert, zu den im Durchsuchungsbeschluss beschriebenen (angeblichen) Straftaten Stellung zu nehmen?
Sachverhalt
Ein seit viereinhalb Jahren bei einer Gemeinde angestellter Flüchtlingshelfer, der in der Asylbetreuung eingesetzt wurde und regelmäßig in einer Flüchtlingsunterkunft Kontakt mit den dort wohnenden Flüchtlingen hatte, geriet aufgrund von Hinweisen einiger Flüchtlinge in den Verdacht, Straftaten zulasten der Flüchtlinge begangen zu haben.
Nachdem Polizei und Staatsanwaltschaft deshalb Ermittlungen angestellt hatten, erließ das Amtsgericht Hanau im Juli 2021 einen Durchsuchungsbeschluss, der sich zum einen auf Amtsräume der Gemeinde, zum anderen auf die Wohnung des Flüchtlingshelfers erstreckte. Von dem den Flüchtlingshelfer betreffenden Durchsuchungsbeschluss erhielt auch die Gemeinde als Arbeitgeber Kenntnis.
Nach dem Durchsuchungsbeschluss bestand u.a. der Verdacht, dass der Flüchtlingshelfer mit einem Kollegen einen Zeugen und eine weitere Person aufgefordert hatte, einen Unterkunftsbewohner in den Wald mitzunehmen und dort zu verprügeln. Es bestatend auch der Verdacht, dass er einen Wasserkocher aus der Unterkunft gestohlen hatte. In zwei Fällen soll er von Bewohnern Gelder für die Begleichung von Rechnungen entgegengenommen, sie aber nicht zur Bezahlung, sondern für sich selbst verwendet zu haben.
Die Gemeinde hörte den Flüchtlingshelfer daraufhin schriftlich unter Bezugnahme auf den gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss zu den dort genannten - angeblichen - Straftaten an. Der Flüchtlingshelfer erklärte ohne konkreten Bezug zu den gegen ihn bestehenden Verdachtsmomenten, dass sein dienstliches Verhalten immer korrekt gewesen sei.
Die nach Anhörung des Personalrats von der Gemeinde ausgesprochene fristlose Tat- und Verdachtskündigung sowie die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung hatten vor dem Arbeitsgericht Offenbach keinen Bestand.
Das Arbeitsgericht hielt der beklagten Gemeinde vor, dass sie im Prozess die aus ihrer Sicht bestehenden Verdachtsmomente nicht konkret geschildert hatte, sondern sich hier allein auf den Durchsuchungsbeschluss als Anlage zu ihren Schriftsätzen bezogen hatte (Urteil vom 14.12.2021, 3 Ca 255/21).
Entscheidung des Hessischen LAG
Die Berufung der Gemeinde hatte vor dem LAG Erfolg.
Das LAG bewertete die außerordentliche fristlose Verdachtskündigung als wirksam, nachdem die Gemeinde in ihrer Berufungsbegründung klargestellt hatte, dass sie sich die im Durchsuchungsbeschluss beschriebenen Verdachtsmomente zu eigen machte. Außerdem konnte sie die Angaben im Durchsuchungsbeschluss weiter konkretisieren, da ihr mittlerweile die polizeilichen Vernehmungsprotokolle vorlagen
Zu den vielen und sehr gravierenden Verdachtsmomenten konnte der Kläger auch vor dem LAG kaum etwas Konkretes zu seiner Entlastung vortragen.
Daher bestand nach Ansicht des LAG der dringende Verdacht erheblicher Verstöße gegen arbeitsvertragliche Pflichten. Dies genügte grundsätzlich für die streitige Verdachtskündigung.
Auch die von der Gemeinde vor Ausspruch der Kündigung vorgenommene Anhörung war in Ordnung, so das LAG.
Denn dem Kläger war der Inhalt des Durchsuchungsbeschlusses bekannt. Daher hatte der Kläger die Möglichkeit, sich zu den darin enthaltenen, ihm bereits seit längerem bekannten Vorwürfen zu äußern. Das hatte er nicht getan.
Angesichts der Schwere der (angeblichen) Pflichtverletzungen und des gegen den Kläger bestehenden dringenden Verdachts war die fristlose Kündigung auch verhältnismäßig.
Praxishinweis
Eine Anhörung zu dem Verdacht strafbarer arbeitsvertraglicher Pflichtverletzungen kann der Arbeitgeber unter Bezugnahme auf einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss vornehmen, falls dieser dem Arbeitnehmer bekannt ist.
Möglicherweise hatte übrigens auch das Arbeitsgericht Offenbach auf der Grundlage seiner Akte richtig entschieden, denn die beklagte Gemeinde hatte in der ersten Instanz vor dem Arbeitsgericht den richterlichen Durchsuchungsbeschluss ihren Schriftsätzen offenbar nur als Anlage beigefügt.
Hier gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) im Zivilprozess die Regel, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, den Sachvortrag einer Partei aus den von ihr überreichten Anlagen zu ermitteln (BGH, Urteil vom 26.04.2016, VI ZR 50/15, Rn.23).
Immerhin lässt der BGH hier neuerdings eine Ausnahme zu, wenn die Partei zur Konkretisierung ihres Vortrags auf eine verständliche und kurze Darstellung in den Anlagen Bezug nimmt, so dass die Richter „keine unzumutbare Sucharbeit“ leisten müssen (BGH, Beschluss vom 02.10.2018, VI ZR 213/17, Leitsatz).
Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 30.06.2023, 8 Sa 388/22
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