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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 01|2023

Update Arbeitsrecht 01|2023 vom 11.01.2023

Entscheidungsbesprechungen

EuGH: Leiharbeitstarifverträge müssen Abweichungen vom Equal-Pay-Grundsatz ausgleichen

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15.12.2022, C-311/21 (TimePartner)

Lässt ein Leiharbeitstarifvertrag Abweichungen vom Gleichbehandlungsgrundsatz vor, muss er ausgleichende Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, um den „Gesamtschutz“ der Leiharbeitnehmer sicherzustellen.

Art.3 Abs.1 Buchst. f); Art.5 Abs.2, 3 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit; §§ 3a, 8, 9, 10 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG); §§ 3 Abs.1; 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz (TVG)

Rechtlicher Hintergrund

Im Allgemeinen können Leiharbeitnehmer gleiche Behandlung („equal treatment“) und Bezahlung („equal pay“) wie vergleichbare Stammkräfte des Einsatzbetriebs verlangen. Davon kann in Deutschland auf der Grundlage spezieller, für die „Leiharbeitsbranche“ geltender Tarifverträge zulasten der Leiharbeitnehmer abgewichen werden.

Praktisch geschieht dies v.a. auf der Grundlage der von DGB-Gewerkschaften und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V. (iGZ) ausgehandelten Tarifverträge.

Daran hat auch die zum 01.04.2017 in Kraft getretene Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) nichts geändert. Gleichstellungsgrundsatz und Abweichungsmöglichkeiten sind seit April 2017 in § 8 AÜG geregelt.

Hinter diesen deutschen Regelungen stehen Art.5 Abs.2 und Abs.3 der Richtlinie 2008/104/EG (Leiharbeitsrichtlinie).

Danach sind tarifliche Abweichungen vom Gleichbehandlungsgrundsatz nur zulässig, wenn Leiharbeitnehmer auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden (Art.5 Abs.2 Leiharbeitsrichtlinie), was in Deutschland durch § 8 Abs.5 AÜG festgeschrieben ist. 

Außerdem sind Abweichungen nur „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ zulässig (Art.5 Abs.3 Leiharbeitsrichtlinie).

Fraglich ist, ob das deutsche AÜG diesen europarechtlichen Vorgaben gerecht wird. Dagegen spricht, dass es gemäß § 8 Abs.2 Satz 2 AÜG genügt, wenn der Verleiher dem Leiharbeitnehmer (überhaupt) die in einem (Leiharbeits-)Tarifvertrag festgelegten Arbeitsbedingungen gewährt. Von einem notwendigen „Gesamtschutz“ von Leiharbeitnehmern ist in § 8 AÜG nicht die Rede. 

Daher hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) vor gut zwei Jahren dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einige Fragen zur Bedeutung dieses von Art.5 Abs.3 Leiharbeitsrichtlinie vorgeschriebenen Gesamtschutzes vorgelegt (Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2021). Vor kurzem hat der EuGH diese Fragen beantwortet.

Sachverhalt

Eine Leiharbeitnehmerin klagte gegen ihren (Ex-)Arbeitgeber, das Zeitarbeitsunternehmen TimePartner Personalmanagement GmbH, für die Zeit von Januar 2017 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 04.04.2017 auf die Lohndifferenz, die sich zwischen ihrem Tariflohn gemäß dem iGZ-Lohntarifvertrag und dem Lohn vergleichbarer Stammarbeitnehmern des Entleihers ergab.

Da die Leiharbeitnehmerin Mitglied der ver.di war, galten für sie die iGZ-Tarife wegen beiderseitiger Tarifbindung (§§ 3 Abs.1, 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz - TVG). Außerdem war im Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf die iGZ-Tarife enthalten.

Das Arbeitsgericht Würzburg (Urteil vom 08.05.2018, 2 Ca 1248/17) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg wiesen die Klage ab (LAG Nürnberg, Urteil vom 07.05.2019, 5 Sa 230/18). 

Das BAG legte dem EuGH wie erwähnt einige Fragen zur Bedeutung des europarechtlich vorgeschriebenen Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer vor.

So wollte das BAG u.a. wissen, ob der Gesamtschutz einen konkreten Vergleich mit Stammkräften des Einsatzbetriebs voraussetzt, ob für den Gesamtschutz ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit dem Zeitarbeitsunternehmen erforderlich ist und ob der Gesetzgeber (und nicht nur die Tarifparteien) regeln muss, wie der Gesamtschutz zu erreichen ist.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH beantwortete die Fragen des BAG recht ausführlich. Im Einzelnen gilt folgendes:

Der durch Art.5 Abs.3 der Leiharbeitsrichtlinie vorgeschriebene „Gesamtschutz“ verlangt zwar nur das allgemein geltende arbeitsrechtliche Schutzniveau, d.h. keinen darüber hinausgehenden Schutz speziell für Leiharbeitnehmer. 

Sieht ein Leiharbeitstarifvertrag aber Abweichungen vom Gleichbehandlungsgrundsatz zulasten der Leiharbeitnehmer vor, muss er ausgleichende Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren. 

Dabei kommt es auf die Situation des einzelnen Leiharbeitnehmers an, d.h. auf einen konkreten Vergleich mit Stammkräften. Die „wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ im Sinne der Richtlinie sind dabei die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt (Art.3 Abs.1 Buchst. f) Leiharbeitsrichtlinie).

Dass Art.5 Abs.2 der Leiharbeitsrichtlinie eine spezielle Ungleichbehandlung, nämlich die Abweichung vom Grundsatz der gleichen Bezahlung („equal pay“), von der Vergütung der Leiharbeitnehmer zwischen den Einsatzzeiten abhängig macht, bedeutet nicht in einer Art Umkehrschluss, dass ein einsatzunabhängiger Lohnanspruch immer schon ausreichen würde, um eine geringere Bezahlung auszugleichen.

Vielmehr ist die Befristung des Arbeitsvertrags nur ein Teilaspekt bei dem Vergleich der Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern und Stammbelegschaft und damit bei der Beantwortung der Frage, ob der erforderliche Gesamtschutz gewährleistet wird (EuGH, Urteil, Rn.56).

Daher ist es nicht zwingend erforderlich, dass Leiharbeitnehmer auf der Grundlage eines unbefristeten Vertrags tätig sind, und es genügt auch, wenn die Tarifparteien (und nicht der Gesetzgeber) festlegen, mit welchen Regelungen der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern sichergestellt werden soll. 

Allerdings müssen solche Leiharbeitstarifverträge umfassend von den Gerichten kontrolliert werden.

Praxishinweis

Das EuGH-Urteil führt zu Rechtsunsicherheit bei der Anwendung der - bislang als rechtlich „wasserdicht“ geltenden - iGZ-Tarifverträge. 

Denn diese enthalten derzeit keine ausgleichenden Vorteile, z.B. in Form zusätzlicher freier Tage oder dgl., um die in vielen Betrieben (trotz Branchenzuschlägen) geringere Bezahlung von Leiharbeitnehmern auszugleichen. 

Eine solche Regelung ist auf allgemeiner tariflicher Grundlage auch kaum möglich, da der EuGH einen konkreten Vergleich der Arbeitsbedingungen des einzelnen Leiharbeitnehmers mit den Arbeitsbedingungen vergleichbarer Stammkräfte verlangt.

Es ist daher davon auszugehen, dass derzeit viele Leiharbeitnehmer eine weitergehende Bezahlung in Höhe der Vergütung vergleichbarer Stammkräfte verlangen können.

Wer sich nicht zufälligerweise gemäß einem für die Leiharbeit geltenden (iGZ-)Tarifvertrag bei den Themen Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub und/oder arbeitsfreie Tage besser steht als vergleichbare Stammarbeitnehmer, wird in europarechtswidriger Weise unzureichend geschützt, falls sein Lohn geringer ist als im Einsatzbetrieb üblich. 

Dann liegt ein Verstoß gegen den Gleichstellungsgrundsatz (§ 8 AÜG) vor, der zur Unwirksamkeit der diesbezüglichen Arbeitsvertragsregelungen führt (§ 9 Abs.1 Nr.2 AÜG) und damit zu einem Anspruch auf Differenzlohn. 

Allerdings sieht der iGZ-Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit (MTV), vom 18.12.2019, wie praktisch alle Tarifverträge eine kurze Ausschlussfrist vor, die auf der ersten Stufe drei Monate ab Fälligkeit des Anspruchs dauert (§10 Abs.1 MTV). Differenzlohnansprüche, die nicht fristwahrend geltend gemacht werden, gehen daher unter.

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15.12.2022, C-311/21 (TimePartner)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A) (Pressemeldung des BAG)

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