Update Arbeitsrecht 03|2024 vom 07.02.2024
Entscheidungsbesprechungen
BAG: EuGH soll die Rechtsfolgen von Fehlern bei der Anzeige von Massenentlassungen klären
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A)
Nachdem der Sechste BAG-Senat im Dezember 2023 bekanntgegeben hat, dass er Kündigungen nicht mehr wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen für unwirksam erklären möchte, hat der Zweite BAG-Senat den Fall nunmehr dem EuGH vorgelegt.
§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2, 3, 4 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 45 Abs.3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)
Rechtlicher Hintergrund
Arbeitgeber sind verpflichtet, vor Massenentlassungen die zuständige Arbeitsagentur darüber schriftlich zu informieren. Hinter dieser in § 17 Abs.1, Abs.3 Satz 2 bis 5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) geregelten Pflicht zur Anzeige bevorstehender Massenentlassungen steht die Richtlinie 98/59/EG über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL), die ebenfalls eine solche Pflicht vorsieht (Art.3 Abs.1 MERL).
Vor 19 Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass der Begriff „Entlassung“ in Art.2 und 3 MERL im Sinne von (Erklärung der) Kündigung durch den Arbeitgeber zu verstehen ist, d.h. (EuGH, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 - Junk).
Die Richtlinie sieht daher laut EuGH folgenden Ablauf vor: Erst informiert und konsultiert der Arbeitgeber die betriebliche Arbeitnehmervertretung und erstattet der Arbeitsbehörde eine Anzeige der bevorstehenden Entlassungen, und danach spricht er die (angezeigten) Kündigungen aus.
Seit der Junk-Entscheidung des EuGH ist das BAG, d.h. sein für das Kündigungsschutzrecht zuständiger Zweiter Senat sowie auch der Sechste Senat, der Meinung, dass Fehler bei der Anzeige einer geplanten Massenentlassung zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen führen (BAG, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11, Rn.37).
Im Dezember 2023 ist der Sechste BAG-Senat von dieser Linie abgewichen und hat erklärt, dass er Fehler bei der Massenentlassungsanzeige künftig anders bewerten möchte, d.h. daraus nicht mehr die Unwirksamkeit einer Kündigung ableiten will (BAG, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2024).
Denn die Anzeigepflicht soll die Tätigkeit der Arbeitsverwaltung absichern, so der Sechste Senat, aber anders als die Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats keine Kündigungen vermeiden.
Seine geänderte Ansicht hat der Sechste BAG-Senat in Form einer sog. Divergenz-Anfrage bekannt gegeben, d.h. er hat den Zweiten BAG-Senat offiziell gefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsansicht festhalten möchte.
Falls ja, müsste gemäß § 45 Abs.2 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) der Große Senat des BAG über diese Frage entscheiden. Sollte sich der Zweite BAG-Senat dagegen der geänderten Ansicht des Sechsten Senats anschließen, wäre eine Entscheidung des Großen Senats nicht nötig.
Vor einigen Tagen hat der Zweite BAG-Senat bekannt gegeben, dass er vor einer Entscheidung über die Divergenz-Anfrage des Sechsten Senats eine Stellungnahme des EuGH einholen möchte: BAG, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A).
Sachverhalt
Ein Monteur und Servicetechniker, der seit vielen Jahren in einem Betrieb mit 22 Arbeitnehmern arbeitete, wurde nach Insolvenzeröffnung über das Vermögen seines Arbeitgebers vom Insolvenzverwalter betriebsbedingt gekündigt, denn der Verwalter plante, den Betrieb zu schließen.
Der Verwalter erklärte die Kündigung mit Schreiben vom 02.12.2020, wobei er die auf drei Monate verkürzte Kündigungsfrist gemäß § 113 Insolvenzordnung (InsO) gewährte, d.h. er kündigte zu Ende März 2021. Das Schreiben ging dem Monteur am 08.12.2020 zu.
Dabei hatte der Verwalter in einem Zeitraum von 30 Tagen, der für die Feststellung einer Massenentlassung nach § 17 Abs.1 KSchG maßgeblich ist, über fünf Arbeitnehmer entlassen. Daher lag hier eine anzeigepflichtige Massenentlassung gemäß § 17 Abs.1 Nr.1 KSchG vor.
Der Verwalter hatte aber keine Massenentlassungsanzeige erstattet.
Vor diesem Hintergrund hatte der Kündigungsschutzklage des Monteurs vor dem Arbeitsgericht Hamburg (Urteil vom 20.04.2021, 5 Ca 656/20) und dem Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg Erfolg (LAG Hamburg, Urteil vom 03.02.2022, 3 Sa 16/21).
Nachdem der Fall beim Sechsten BAG-Senat gelandet war, fragte dieser, wie erwähnt, den Zweiten BAG-Senat, ob dieser weiter an seiner Ansicht festhalten möchte, dass eine fehlerhafte oder vollständig unterlassene Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen führen.
Entscheidung des BAG
Der Zweite BAG-Senat setzte das Verfahren aus und legte den Fall dem EuGH vor. Dabei lässt er sich von folgenden Überlegungen leiten:
Die MERL ordnet ebenso wenig wie § 17 KSchG eine Rechtsfolge an für den Fall, dass der Arbeitgeber seine Pflicht zur Anzeige einer geplanten Massenentlassung nicht (ordnungsgemäß) erfüllt.
Allerdings kann man der MERL (und § 17 KSchG) eine durch das Junk-Urteil des EuGH einigermaßen geklärte zeitliche Reihenfolge für eine korrekte Massenentlassung entnehmen: Erst kommen Information und Konsultation der Arbeitnehmervertretung, dann die Anzeige an die Arbeitsverwaltung und schließlich die Kündigungen.
Für diese sehen Art.4 Abs.1 MERL und § 18 Abs.1 KSchG außerdem eine ergänzende Entlassungssperre vor. Danach werden angezeigte Entlassungen frühestens 30 Tage nach der Anzeige wirksam (falls die Arbeitsbehörde diese Frist nicht verkürzt).
Vor diesem Hintergrund möchte der Zweite BAG-Senat vom EuGH wissen, ob eine Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung erst wirksam wird, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist.
Außerdem fragt der Zweite BAG-Senat, ob die 30-Tages-Sperre auch dann abläuft, wenn der Arbeitgeber eine inhaltlich nicht (ganz) korrekte Anzeige erstattet hat.
Weiterhin stellt sich für das BAG die Frage, ob eine unterbliebene oder nicht korrekte Massenentlassungsanzeige nach Ausspruch der Kündigungen nachgeholt werden kann.
Schließlich bittet das BAG den Gerichtshof um eine Klärung der von Art.6 MERL vorgeschriebenen Rechtsweggarantie.
Praxishinweis
Der Zweite BAG-Senat hat den Gerichtshof nicht unmittelbar danach gefragt, welche Folgen es für die vom Arbeitgeber erklärten Kündigungen hat, wenn eine (korrekte) Anzeige zuvor unterblieben ist.
Stattdessen umkreist das BAG diese Frage mit einigen anderen Fragen, aus deren Beantwortung sich mittelbar Rückschlüsse auf das Verhältnis von (Fehlern bei der) Massenentlassungsanzeige und (Wirksamkeit der) Kündigungen ziehen lassen.
Da sich der EuGH meist ein bis drei Jahre Zeit lässt für die Beantwortung von Vorabentscheidungsbitten, bleiben die rechtlichen Auswirkungen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen auf die später erklärten Kündigungen voraussichtlich noch für längere Zeit ungewiss.
Arbeitgebern ist bis zu einer Klärung durch den EuGH bzw. das BAG zu raten, sämtliche bislang anerkannte Anforderungen an korrekte Anzeigen weiterhin strikt einzuhalten.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A) (Pressemitteilung des Gerichts)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B) (Pressemitteilung des Gerichts)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 (Junk)
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat
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Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung
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