Update Arbeitsrecht 03|2024 vom 07.02.2024
Leitsatzreport
Arbeitsgericht Köln: Unwirksamkeit einer Wartezeitkündigung, da kein Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt wurde
Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23
§§ 164 Abs.2; 167 Abs.1; 168; 173 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); § 1 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 1, 2, 3, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); Art.5 Richtlinie 2000/78/EG
Leitsätze des Gerichts:
1. Kündigungen, die gegen § 164 Abs.2 SGB IX verstoßen, sind rechtsunwirksam.
2. Eine durch § 164 Abs.2 SGB IX verbotene Diskriminierung ist indiziert, wenn der Arbeitgeber gegen seine Verpflichtung aus § 167 Abs.1 SGB IX verstößt.
3. Arbeitgeber sind auch während der Wartezeit des § 1 Abs.1 KSchG verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs.1 SGB IX durchzuführen (entgegen BAG, Urteil vom 21. April 2016 - 8 AZR 402/14 -, BAGE 155, 61-69).
Hintergrund:
Gemäß § 167 Abs.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ist der Arbeitgeber zugunsten von schwerbehinderten Beschäftigten zu einem sog. Präventionsverfahren verpflichtet. Er muss „bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“, die zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses führen können, frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und das Integrationsamt einschalten, um mit ihrer Hilfe die Schwierigkeiten zu beseitigen und das Arbeitsverhältnis zu sichern. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist das Präventionsverfahren an sich keine „angemessene Vorkehrung“ im Sinne von Art.5 Richtlinie 2000/78/EG, um behinderten Menschen den Zugang zum Beruf oder seine Ausübung zu erleichtern. Vielmehr soll das Präventionsverfahren solche möglichen Maßnahmen zutage fördern (BAG, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14, Leitsatz 1, Rn.23-25). Außerdem sind Arbeitgeber während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses, in der gemäß § 1 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) noch kein Kündigungsschutz besteht („Wartezeit“), ohnehin nicht zu einem Präventionsverfahren verpflichtet (BAG, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14, Leitsatz 2). Davon abweichend hat das Arbeitsgericht Köln entschieden, dass ein Anfang Januar 2023 von einer Gemeinde als Bauhofmitarbeiter eingestellter Arbeitnehmer, der wegen eines frühkindlichen Hirnschadens mit einem Grad der Behinderung von 80 als schwerbehinderter Mensch anerkannt war, im Juni 2023 (d.h. in der Wartezeit) vom Arbeitgeber nicht wirksam gekündigt wurde. Denn die Kommune hatte es versäumt, den Arbeitnehmer in einer anderen Kolonne einzusetzen, wo er möglicherweise besser mit den Anforderungen zurechtgekommen wäre (Arbeitsgericht Köln, Urteil, Rn.40). Wegen des - angeblichen - Verstoßes gegen die Pflicht zur Prävention gemäß § 167 Abs.1 SGB IX bewertete das Gericht die Wartezeitkündigung als diskriminierend im Sinne von § 164 Abs.2 SGB IX und damit als unwirksam.
Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14
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