Update Arbeitsrecht 08|2021 vom 21.04.2021
Entscheidungsbesprechungen
Thüringer LAG: Verhaltensbedingte Kündigung wegen Pflichtverletzung infolge Alkoholkrankheit
Thüringer Landesarbeitsgericht, Urteil vom 03.03.2021, 4 Sa 154/19
Leugnung und Verschleierung einer Alkoholkrankheit sowie damit in Zusammenhang stehender Pflichtverstöße sind typisch für das veränderte Verhalten Alkoholabhängiger.
§ 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)
Rechtlicher Hintergrund
Arbeitsverhältnisse können von beiden Vertragspartnern gemäß javascript:_xRed_editWysiwyg('content', 15, 1920, 1200)§ 626 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden. Ein wichtiger Grund sind Tatsachen, die es dem Kündigenden unzumutbar machen, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und die Interessen beider Vertragsparteien abzuwägen.
Die unrichtige Angabe von Arbeitszeiten in ein Zeiterfassungssystem kann einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darstellen, und zwar auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis lange bestanden hat. Denn dadurch täuscht der Arbeitnehmer den Arbeitgeber über den Umgang seiner Arbeitsleistung bzw. über Arbeitszeiten, die er in Wahrheit gar nicht gearbeitet hat, d.h. er begeht einen (versuchten oder vollendeten) Arbeitszeitbetrug.
Ein solches Verhalten zerstört das Vertrauen des Arbeitgebers in Redlichkeit und Zuverlässigkeit des Arbeitnehmers und damit die Grundlage des Arbeitsverhältnisses.
In einem aktuellen Urteil musste das Thüringer Landesarbeitsgericht (LAG) über einen Fall entscheiden, in dem eine Arbeitnehmerin wegen zweier binnen weniger Tage verübter unrichtiger Angaben von Arbeitszeiten fristlos gekündigt worden war. Ob die Pflichtverstöße im Zusammenhang mit einer Alkoholkrankheit der Arbeitnehmerin standen, war zwischen den Parteien streitig.
Sachverhalt
Eine seit fast 30 Jahren bei einem öffentlichen Arbeitgeber beschäftigte, über 60-jährige Sachbearbeiterin für Grundstücksangelegenheiten war alkoholkrank. Am 28.12.2017 trug sie schon bei Arbeitsbeginn das Arbeitsende in die Zeiterfassung ein (mit 18:00 Uhr), obwohl sie an diesem Tag um 17:20 Uhr ging. Dies stellte sich heraus, weil sie stark alkoholisiert mit ihrem PKW heimfuhr und dabei noch vor 18:00 Uhr von einer polizeilichen Verkehrskontrolle angehalten wurde. Dabei wurde eine Blutalkoholkonzentration von fast drei Promille festgestellt.
Am 02.01.2018 druckte sie ihren Arbeitszeitbericht für Dezember 2017 aus, unterschrieb ihn ohne Korrektur der unzutreffenden Zeiten für den 28.12.2017 und gab ihn beim Arbeitgeber ab. Ende Februar 2018 erging ein Strafbefehl wegen Trunkenheit im Verkehr. Außerdem wurde ihr die Fahrerlaubnis entzogen. Zu diesen Vorfällen berichtete sie dem Arbeitgeber in einem Gespräch, dass sie den Führerschein angeblich freiwillig abgegeben habe, da sie Medikamente einnehme. Erst später teilte sie den wahren Grund für den Verlust der Fahrerlaubnis mit, leugnete aber ihre Alkoholkrankheit weiterhin.
Ende Juli 2018 kündigte der Arbeitgeber nach Anhörung des Personalrats außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich. Zu diesem Zeitpunkt war sie, was dem Arbeitgeber aber nicht bekannt war, therapiewillig, denn sie hatte eine Therapie begonnen (Urteil, Rn.31).
Die Arbeitnehmerin erhob vor dem Arbeitsgericht Gera Kündigungsschutzklage, mit Erfolg (Urteil vom 11.04.2019, 5 Ca 210/18).
Entscheidung des Thüringer LAG
Das LAG wies die Berufung des Arbeitgebers zurück. Im Ergebnis waren sowohl die fristlose als auch die ordentliche Kündigung unwirksam.
Dabei lässt das LAG die Frage offen, ob sich der Arbeitgeber auf einen „an sich“ für eine fristlose Kündigung ausreichenden („wichtigen“) Grund berufen konnte, denn im Ergebnis der Interessenabwägung waren jedenfalls die Interessen der gekündigten Arbeitnehmerin stärker zu berücksichtigen als der Wunsch des Arbeitgebers nach einer Vertragsbeendigung.
Denn die Angestellte war schon 30 Jahre lang beschäftigt und währen dieser Zeit war das Arbeitsverhältnis, jedenfalls bis zu den beiden arbeitszeitbezogenen Pflichtverstößen am 28.12.2017 und am 02.01.2018, störungsfrei verlaufen.
Daher wäre es dem Arbeitgeber zumutbar gewesen, der Arbeitnehmerin die Möglichkeit einzuräumen, ihre Alkoholsucht und deren Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis durch eine Therapie zu überwinden, d.h. ihr die Gelegenheit zu geben, ihr Verhalten zu ändern und das Arbeitsverhältnis störungsfrei fortzusetzen.
Ergänzend weist das LAG darauf hin, dass auch die Pflichtverstöße, d.h. die unrichtigen Angaben zu den Arbeitszeiten am 28.12.2017, wahrscheinlich durch die Alkoholkrankheit bedingt waren. Dies lasse, so das LAG, die Pflichtverstöße in einem anderen Licht erscheinen (Urteil, Rn.33).
Aufgrund der (deutlich) überwiegenden Interessen der Angestellten an einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses war auch die ordentliche Kündigung unwirksam, da sie nicht sozial gerechtfertigt war, d.h. die Voraussetzungen von § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) waren nicht erfüllt (Urteil, Rn.46).
Praxishinweis
Dem LAG ist zuzustimmen. Die hier strittigen Kündigungen waren eine Überreaktion des Arbeitgebers.
Denn obwohl der Hergang der unrichtigen Arbeitszeit-Einträge am 28.12.2017 nicht aufgeklärt werden konnten, war jedenfalls klar, dass die Arbeitnehmerin an diesem Tag - zumindest gegen Ende des Arbeitstages bei Verlassen der Arbeitsstelle - hochgradig alkoholisiert gewesen sein musste. Und die nachträgliche Verschleierung dieses Pflichtverstoßes durch die Abgabe eines unrichtigen Arbeitszeitberichts für Dezember 2017 war für Alkoholkranke typisch. Da das langjährige Arbeitsverhältnis bis zu diesen Vorfällen unbelastet war, waren die Kündigungen unverhältnismäßig.
Thüringer Landesarbeitsgericht, Urteil vom 03.03.2021, 4 Sa 154/19
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Außerordentliche Kündigung
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Verhaltensbedingte Kündigung
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