Update Arbeitsrecht 19|2021 vom 22.09.2021
Entscheidungsbesprechungen
LAG Hamm: Initiativrecht des Betriebsrats bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung
Landesarbeitsgericht Hamm, Beschluss vom 27.07.2021, 7 TaBV 79/20
Der Betriebsrat kann auf der Grundlage von § 87 Abs.1 Nr.6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) vom Arbeitgeber die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems verlangen, d.h. er hat ein Initiativrecht.
§§ 76, 87 Abs.1 Nr.6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); § 100 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)
Rechtlicher Hintergrund
Der Betriebsrat hat gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein Mitbestimmungsrecht bei der „Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen“.
Auch elektronische Arbeitszeiterfassungssysteme sind „technische Einrichtungen“ im Sinne von § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG. Denn sie sind objektiv dazu geeignet, die (zeitliche) Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Und die objektive Überwachungseignung einer technischen Einrichtung genügt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bereits, damit sie zur Überwachung „bestimmt“ ist.
Im Allgemeinen hat der Betriebsrat bei den Mitbestimmungsthemen des § 87 Abs.1 BetrVG ein „Initiativrecht“, d.h. er kann von sich aus Regelungen vorschlagen und notfalls über die Einigungsstelle durchsetzen (§ 87 Abs.2 BetrVG). Bezogen auf § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG würde das bedeuten, dass er die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung vom Arbeitgeber verlangen kann.
Genau das ist nach einer älteren BAG-Entscheidung aber ausgeschlossen (BAG, Beschluss vom 28.11.1989, 1 ABR 97/88). Denn, so das BAG: Betriebsräte sollen Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer durch Überwachungsmaßnahmen abwehren, d.h. der Überwachung durch den Arbeitgeber Grenzen setzen. Daher können Betriebsräte von sich aus die Einführung technischer Einrichtungen zur Arbeitszeitdokumentation und Arbeitszeitüberwachung nicht verlangen.
Allerdings hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 entschieden, dass die Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) nicht nur inhaltliche Arbeitszeitgrenzen festlegt, sondern den Mitgliedsstaaten vorgibt, die Arbeitgeber zu verpflichten, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“ (EuGH, Urteil vom 14.05.2019, C-55/18, Rn.60)
Obwohl das EuGH-Urteil (nur) an die EU-Staaten gerichtet ist und nicht an private Arbeitgeber, sind die Gerichte als Teil der staatlichen Gewalt der Mitgliedsstaaten verpflichtet, bei der Auslegung des nationalen Rechts die Vorgaben des EuGH-Urteils so weit wie möglich zu beachten.
Daher kann man die Meinung vertreten, dass das BAG-Urteil aus dem Jahre 1989 überholt ist, d.h. dass Betriebsräte aufgrund des EuGH-Urteils vom Mai 2019 von sich aus die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung verlangen können, damit Arbeitgeber auf diese Weise ein objektives, verlässliches und zugängliches System der Arbeitszeitmessung einführen müssen.
Vor diesem Hintergrund ist eine aktuelle Entscheidung des LAG Hamm interessant, die ein Initiativrecht des Betriebsrats annimmt, gleichzeitig aber betont, dass das Europarecht dabei keine Rolle spielt: LAG Hamm, Urteil vom 27.07.2021, 7 TaBV 79/20.
Sachverhalt
Der Betriebsrat einer von zwei Arbeitgebern betriebenen vollstationären Wohneinrichtung im Rahmen der Eingliederungshilfe verlangte von der Arbeitgeberseite den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung.
Nachdem er mit Erfolg die arbeitsgerichtliche Errichtung einer Einigungsstelle gemäß § 100 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) durchgesetzt hatte, setzte die Einigungsstelle ihr Verfahren vorübergehend aus, um arbeitsgerichtlich klären zu lassen, ob der Betriebsrat entgegen dem BAG-Beschluss vom 28.11.1989 (1 ABR 97/88) ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung hat.
Das daraufhin vom Betriebsrat angestrengte Beschlussverfahren mit dem Ziel der gerichtlichen Feststellung eines Initiativrechts hatte in der ersten Instanz keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht Minden entschied gegen den Betriebsrat (Beschluss vom 15.09.2020, 2 BV 8/20), d.h. im Sinne des BAG-Beschlusses vom 28.11.1989 (1 ABR 97/88).
Entscheidung des LAG Hamm
Das LAG Hamm entschied andersherum und ließ die Rechtsbeschwerde zum BAG zu, wo der Fall inzwischen liegt (Aktenzeichen des BAG: 1 ABR 22/21).
Nach Ansicht des LAG Hamm kann der Betriebsrat von sich aus auf der Grundlage von § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung verlangen. Dabei stellt sich das LAG bewusst gegen den BAG-Beschluss vom 28.11.1989 (1 ABR 97/88). Denn nach den Absichten des Gesetzgebers der BetrVG-Reform des Jahres 1972 sollte der Betriebsrat grundsätzlich bei allen Mitbestimmungstatbeständen des § 87 Abs.1 ein Initiativrecht erhalten.
Hier verweist das LAG auf die Gesetzesmaterialien sowie auf § 87 Abs.1 Nr.8 BetrVG, wonach ausdrücklich nur die „Form, Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen“ mitbestimmt ist, d.h. der Betriebsrat kann hier (im Ausnahmefall) nicht die Einführung einer Sozialeinrichtung verlangen. Daraus folgt umgekehrt, dass er das bei der „Einführung und Anwendung“ von technischen Überwachungseinrichtungen (§ 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG) sehr wohl kann.
Schließlich stellt das LAG in seiner (knappen) Entscheidung ausdrücklich klar, dass europarechtliche Fragestellungen „nicht entscheidungserheblich“ waren. Denn da das Gericht bereits durch Auslegung des nationalen Rechts, d.h. von § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG, zu seinem juristischen Ergebnis kam, brauchte es die Frage nicht zu klären, ob das EuGH-Urteil vom 14.05.2019 (C-55/18) Auswirkungen auf die Interpretation von § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG hat.
Praxishinweis
Das BAG wird demnächst darüber entscheiden müssen, ob es an seinem mittlerweile über 30 Jahre alten Beschluss vom 28.11.1989 (1 ABR 97/88) weiterhin festhält oder nicht.
Es ist zu hoffen, dass das BAG rasch zu einer Entscheidung kommt. Denn die Frage, ob der Betriebsrat vom Arbeitgeber die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems verlangen kann oder nicht, ist von erheblicher praktischer Bedeutung.
Bis zu einer BAG-Entscheidung haben gerichtliche Verfahren zur Einigungsstellenbesetzung zwar Erfolg, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Betriebsrat ein Initiativrecht hat, was gemäß § 100 Abs.1 Satz 2 ArbGG für die gerichtliche Einsetzung der Einigungsstelle genügt. Allerdings sollten die Verfahren vor der Einigungsstelle dann sinnvollerweise ausgesetzt werden, wie dies im Streitfall auch geschehen ist.
Landesarbeitsgericht Hamm, Beschluss vom 27.07.2021, 7 TaBV 79/20
Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitszeit und Arbeitszeitrecht
Handbuch Arbeitsrecht: Einigungsstelle
Handbuch Arbeitsrecht: Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten
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