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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 03|2019

Update Arbeitsrecht 03|2019 vom 30.10.2019

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Auch bei tariflicher Auflösung eines Arbeitsverhältnisses wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit ist ein BEM erforderlich

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17.04.2019, 7 AZR 292/17

Führt der Arbeitgeber pflichtwidrig kein Betriebliches Eingliederungsmanagement durch, kann er sich auf die Dienstunfähigkeit als tarifvertraglich vorgesehene vertragsauflösende Bedingung nicht berufen.

§ 167 Abs.2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); § 84 Abs.2 SGB IX alte Fassung

Rechtlicher Hintergrund

Waren Beschäftigte in den vergangenen zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank (ununterbrochen oder infolge mehrerer kürzerer Krankheiten), muss der Arbeitgeber gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zusammen mit dem Beschäftigten und der betrieblichen Arbeitnehmervertretung klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann und mit welchen Leistungen oder Hilfen einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und so der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Diese Klärung heißt „betriebliches Eingliederungsmanagement“ („BEM“). Bis Ende 2017 war die einschlägige Gesetzesvorschrift in § 84 Abs.2 SGB (alte Fassung) enthalten.

Die Teilnahme am BEM ist für den Beschäftigten freiwillig, d.h. der Arbeitgeber muss ein BEM zwar anbieten, doch muss sich der Beschäftigte darauf nicht einlassen. Es steht ihm auch frei, sich für ein BEM ohne Beteiligung der vom Gesetz vorgesehenen Stellen (Betriebsrat, Betriebsarzt usw.) zu entscheiden.

Führt der Arbeitgeber entgegen seiner gesetzlichen Pflicht kein BEM durch, bricht er es vorschnell ab oder bietet er es dem Arbeitnehmer erst gar nicht unter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften über die Einladung zum BEM an, ist eine krankheitsbedingte Kündigung nur in seltenen Fällen wirksam.

Denn für eine krankheitsbedingte (ordentliche) Kündigung muss sich der Arbeitgeber, wenn das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate besteht und im Betrieb mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt sind, auf § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) stützen und daher den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Gibt es ein milderes Mittel als eine Kündigung, ist diese unverhältnismäßig. Mildere Mittel sind gemäß § 1 Abs.2 KSchG vor allem Einsatzmöglichkeiten auf einem anderen Arbeitsplatz.

Das Nichtbestehen solcher Beschäftigungsmöglichkeiten muss der Arbeitgeber laut Bundesarbeitsgericht (BAG) vor Gericht beweisen, falls er vor Ausspruch der Kündigung kein BEM angeboten bzw. durchgeführt hat. Er trägt dann eine erhöhte Darlegungs- und Beweislast. Der Nachweis, dass keine anderen Einsatzmöglichkeiten bestehen und ein BEM daher nutzlos gewesen wäre, ist aber praktisch nie möglich. Daher haben krankheitsbedingt gekündigte Arbeitnehmer mit einer Kündigungsschutzklage meistens Erfolg, wenn der Arbeitgeber Fehler beim BEM gemacht hat. Denn das BEM besteht ja gerade in der gemeinsamen Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten, so dass der Arbeitgeber vorschnell kündigt, wenn er zuvor ein BEM unterlassen hat.

Der Grundsatz, dass Prävention vor Entlassung geht, gilt nicht nur im Kündigungsschutzrecht. Auch bei der in einigen Tarifverträgen vorgesehenen automatischen Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei dauernder Dienstunfähigkeit sind Arbeitgeber zum BEM verpflichtet, bevor sie sich auf die Vertragsbeendigung gemäß Tarifvertrag berufen können. Das hat das BAG vor kurzem klargestellt.

Sachverhalt

In dem Fall des BAG hatte sich eine Flugbegleiterin der Lufthansa gegen die von der Lufthansa behauptete automatische Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses gerichtlich zur Wehr gesetzt.

Hintergrund des Streits waren mehrmonatige krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeiten in den Jahren 2014 und 2015. Obwohl die Flugbegleiterin zu Beginn ihrer Fehlzeiten (im März 2014) von sich aus erklärt hatte, einem BEM nicht zuzustimmen, hätte ihr die Lufthansa ein BEM (später nochmals) ausdrücklich anbieten müssen (was sie nicht tat).

Im April 2015 stellte die fliegerärztliche Sachverständige fest, dass die Flugbegleiterin auf Dauer flugdienstuntauglich sei. Daraufhin teilte ihr die Lufthansa im Mai 2015 schriftlich mit, dass ihr Arbeitsverhältnis zu Ende Dezember 2015 enden werde. Denn gemäß dem einschlägigen Manteltarifvertrag der Lufthansa endet das Arbeitsverhältnis von Kabinenmitarbeitern nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist, wenn durch fliegerärztliche Untersuchung festgestellt wird, dass ein Mitarbeiter wegen körperlicher Untauglichkeit seinen Beruf nicht mehr ausüben kann.

In ihrem Schreiben vom Mai 2015 fragte die Lufthansa die Flugbegleiterin außerdem, ob sie an einer Tätigkeit am Boden interessiert wäre, woraufhin die Flugbegleiterin ein Interesse daran bekundete.

Im November 2015 fand dann ein Gespräch zwischen der Flugbegleiterin und zwei Lufthansa-Vertreterinnen statt, an dem die Lufthansa-Personalvertretung nicht beteiligt war.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 01.03.2016, 24 Ca 3987/15) und das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) entschieden, dass das Arbeitsverhältnis nicht gemäß der tariflichen Vorschrift wegen der Flugdienstuntauglichkeit beendet worden ist (Hessisches LAG, Urteil vom 19.12.2016, 17 Sa 530/16).

Entscheidung des BAG

Auch vor dem BAG zog die Lufthansa den Kürzeren. Zur Begründung heißt es in dem Urteil:

Die tarifliche Vorschrift über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses von flugdienstuntauglichen Kabinenmitarbeitern ist so auszulegen, dass das Arbeitsverhältnis nicht endet, wenn der Arbeitnehmer am Boden weiter beschäftigt werden kann (Urteil, Rn.21, 22). Außerdem musste die Flugbegleiterin gemäß Tarif ein Interesse an einer Tätigkeit im Bodendienst erklären, was sie hier fristgemäß getan hatte.

Nach Ansicht des BAG bestand im Streitfall auch die Möglichkeit der weiteren Beschäftigung im Bodendienst, denn die Lufthansa hatte es pflichtwidrig unterlassen, ein BEM anzubieten bzw. durchzuführen (Urteil, Rn.30 bis 47). Eine gesetzeskonforme Einladung zu einem BEM hatte die Lufthansa der Flugbegleiterin nämlich nie zukommen lassen, und das Gespräch im November 2015 ließ das BAG nicht als BEM gelten, denn dabei war die Lufthansa-Personalvertretung nicht anwesend (Urteil, Rn.40 bis 42).

Daher hätte die Lufthansa vor Gericht umfassend erläutern müssen, warum an sämtlichen Bodenstationen (angeblich) keine Einsatzmöglichkeiten für die Flugbegleiterin bestanden. Diesen Nachweis hatte die Lufthansa nicht führen können (Urteil, Rn.32, Rn.43 bis 47).

Praxishinweis

Ob eine voraussichtliche künftige Arbeitsunfähigkeit Grund für eine krankheitsbedingte Kündigung sein soll oder ob ein Tarifvertrag für diesen Fall die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorsieht, macht beim Thema BEM keinen Unterschied.

In beiden Fällen hat der Arbeitgeber vor einer Entlassung zunächst ein BEM anzubieten bzw. durchzuführen. Andernfalls muss er vor Gericht konkret nachweisen, dass keine Möglichkeiten der Weiterbeschäftigung auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz bestehen. Ein solcher Nachweis ist praktisch kaum zu führen.

Eine Verpflichtung zum BEM besteht auch, wenn ein Tarifvertrag oder Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) die Auflösung des Arbeitsverhältnisses für den Fall vorsehen, dass ein Mitarbeiter per Bescheid des Rentenversicherungsträgers eine unbefristete Rente wegen einer teilweisen Erwerbsminderung erhält und wenn er Interesse an einer Weiterbeschäftigung bekundet hat, vgl. § 33 Abs.2 und 3 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L), § 35 Abs.2 und 3 AVR Diakonie Deutschland. Auch dann trägt der Arbeitgeber eine erweiterte Darlegungslast zu den (angeblich) nicht bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, falls er ein BEM unterlässt, wie das BAG bereits 2017 zu § 33 Abs.2 und 3 TV-L entschieden hat (BAG, Urteil vom 30.08.2017, 7 AZR 204/16, Leitsätze).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17.04.2019, 7 AZR 292/17

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