Update Arbeitsrecht 18|2021 vom 08.09.2021
Entscheidungsbesprechungen
LAG Niedersachsen: EuGH-Rechtsprechung zur Arbeitszeitrichtlinie und Beweislast bei Überstundenklagen
Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 06.05.2021, 5 Sa 1292/20
Das Urteil des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/18) hat keine Konsequenzen für Fragen der Arbeitsvergütung und für die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess.
Richtlinie 2003/88/EG; §§ 3, 16 Arbeitszeitgesetz (ArbZG); § 17 Abs.1 Mindestlohngesetz (MiLoG); § 2a Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG); Art.31 Abs.2 Europäische Grundrechtecharta (GRC); §§ 241 Abs.2; 618 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
Rechtlicher Hintergrund
Die Richtlinie 2003/88/EG („Arbeitszeitrichtlinie“) und das deutsche Arbeitszeitgesetz (ArbZG) enthalten zum Schutz der Gesundheit von Arbeitnehmern Beschränkungen der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit. So legen z.B. Richtlinie und ArbZG eine Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Siebentageszeitraum fest (Art.6 Arbeitszeitrichtlinie, § 3 ArbZG, §§ 9 ff. ArbZG).
Eine Pflicht der Arbeitgeber, die täglichen Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer zu dokumentieren, besteht bisher nach deutschem Arbeitsrecht nur in Ausnahmefällen, d.h. es gibt keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeitdokumentation.
Diese Ausnahmefälle sind Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden täglich (§ 16 Abs.2 ArbZG), die Arbeitszeiten von geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern (§ 17 Abs.1 Mindestlohngesetz - MiLoG) und schließlich die Arbeitszeiten von Arbeitnehmern der Branchen bzw. der Berufsgruppen, die in § 2a Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG) genannt sind (§ 17 Abs.1 MiLoG).
Obwohl die Arbeitszeitrichtlinie keine (ausdrücklichen) Vorgaben zur Arbeitszeitdokumentation enthält, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) Arbeitgeber zu einer Arbeitszeiterfassung verpflichten müssen (EuGH, Urteil vom 14.05.2019, C-55/18 - CCOO gg. Deutsche Bank SAE).
Zur Begründung beruft sich der EuGH auf die Arbeitszeitrichtlinie und auf Art.31 Abs.2 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC), der Arbeitnehmern das „Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub“ gewährt. Um die „praktische Wirksamkeit“ von Art.31 Abs.2 GRC und der Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie zu gewährleisten,
„müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.“ (EuGH, Urteil vom 14.05.2019, C-55/18, Urteil, Rn.60)
In seiner Entscheidung hat der EuGH allerdings klargestellt, dass diese Verpflichtung nur an die Mitgliedsstaaten adressiert ist, die diese Vorgaben erst einmal umsetzen müssen. Es besteht daher in den Mitgliedsstaaten erst dann eine Pflicht der Arbeitgeber zur Arbeitszeitdokumentation, wenn sie das EuGH-Urteil umgesetzt haben.
Trotzdem hat das Arbeitsgericht Emden im Februar 2020 entschieden, dass Arbeitgeber - aufgrund einer entsprechenden Nebenpflicht gemäß § 241 Abs.2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) - bereits nach derzeit geltendem Recht in Deutschland zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind (Arbeitsgericht Emden, Urteil vom 20.02.2020, 2 Ca 94/19).
Im November 2020 hat das Arbeitsgericht Emden nachgelegt und nochmals in diesem Sinne entschieden (Urteil vom 09.11.2020, 2 Ca 399/18). Diese Entscheidung hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen vor kurzem aber aufgehoben (LAG Niedersachsen, Urteil vom 06.05.2021, 5 Sa 1292/20).
Sachverhalt
Ein Auslieferungsfahrer verklagte ein Einzelhandelsunternehmen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Bezahlung von Überstunden, die das Unternehmen bestritt. Die vom Arbeitgeber bereitgestellte technische Anwesenheitserfassung („Kommt- und Gehtzeiten“) erlaubte dem Fahrer keine Eintragung von Pausen, weshalb es keine Arbeitszeiterfassung im Sinne des EuGH gab.
Das Arbeitsgericht Emden verurteilte den Arbeitgeber zur Vergütung der streitigen Überstunden. Denn er war, so das Arbeitsgericht, zur Erfassung der genauen Arbeitszeit gemäß § 618 BGB in europarechtskonformer Auslegung dieser Vorschrift, d.h. unter Berücksichtigung der Vorgaben des EUGH verpflichtet.
Wenn die Erfassung der „Kommt- und Gehtzeiten“ keine genaue Arbeitszeiterfassung sei, liege hierin eine Beweisvereitelung durch den Arbeitgeber (Arbeitsgericht Emden, Urteil vom 09.11.2020, 2 Ca 399/18).
Entscheidung des LAG Niedersachsen
Das LAG hob die Entscheidung auf und wies die Klage bis auf einen Teilbetrag für 78,25 Überstunden ab. Diese 78,25 Überstunden hatte der Arbeitgeber nämlich abgerechnet, später im Prozess aber nicht erklärt, warum diese Abrechnung unrichtig gewesen sein sollte.
Überwiegend bestand aber kein Anspruch auf Bezahlung der streitigen Überstunden, da der Kläger nicht konkret vorgetragen bzw. nicht bewiesen, dass die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der Arbeit notwendig waren. Hier traf den Kläger die Beweislast, so das LAG (Urteil, Rn.25, 32-35).
Anders als das Arbeitsgericht Emden ist das LAG der Meinung, dass das EuGH-Urteil keine Konsequenzen für Fragen der Arbeitsvergütung und für die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess hat. Denn die Richtlinie 2003/88/EG regelt, abgesehen von dem Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub (Art.7 Richtlinie 2003/88/EG) keine Fragen des Arbeitsentgelts.
Daher sind die EU-Mitgliedsstaaten, so das LAG, nicht verpflichtet, Ansprüche auf Lohn und Gehalt entsprechend den europarechtlichen Begriffen „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ in Art.2 der Richtlinie 2003/88/EG festzulegen (LAG, Urteil, Rn.26).
Praxishinweis
Dem LAG ist zuzustimmen. Gegen die Ansicht des Arbeitsgerichts Emden spricht erstens, dass der EuGH die Arbeitszeitrichtlinie ausgelegt und sich damit allein auf Fragen des Arbeitsschutzes bezogen hat, d.h. er hat sich gar nicht mit der Frage befasst, welche Arbeitszeiten ggf. wie zu bezahlen sind. Zweitens hat der EuGH die Bedeutung seines Urteils abgeschwächt und klargestellt, dass seine Interpretation der Arbeitszeitrichtlinie keine unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten hat, sondern von diesen zunächst einmal umgesetzt werden muss.
Da eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nach deutschem Gesetzesrecht nur in bestimmten (Ausnahme-)Fällen besteht, ist eine Auslegung von § 618 BGB, der als Generalklausel die allgemeine Pflicht des Arbeitgebers zu Arbeitsschutzmaßnahmen festschreibt, im Sinne des Arbeitsgerichts Emden kaum vertretbar. § 618 BGB enthält keine allgemeine Arbeitszeiterfassungspflicht, auch nicht im Lichte des Europarechts.
Das LAG hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zugelassen, das daher demnächst über diese Fragen entscheiden wird (Aktenzeichen des BAG: 5 AZR 359/21).
Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 06.05.2021, 5 Sa 1292/20
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