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LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Ur­teil vom 19.08.2009, 2 Sa 132/09

   
Schlagworte: Europarecht, Kündigungsfrist
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Aktenzeichen: 2 Sa 132/09
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 19.08.2009
   
Leitsätze: § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist wegen Europarechtswidrigkeit nicht anzuwenden (siehe LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 26.8.2008 - 7 Sa 252/08 -). Ein nach Ablauf der zutreffenden Kündigungsfrist erhobener Anspruch des Arbeitnehmers auf Annahmeverzug ist grundsätzlich auch nicht verwirkt.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Stralsund, Urteil vom 11.03.2009, 3 Ca 522/08
   

Te­nor

I. Auf die Be­ru­fung des Klägers wird die Be­klag­te un­ter Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Stral­sund vom 11. März 2009 ver­ur­teilt, ei­nen Be­trag in Höhe von 1.299,00 EUR an die Bun­des­agen­tur für Ar­beit - Agen­tur für Ar­beit Ber­gen - so­wie an den Kläger ei­nen Be­trag in Höhe von 1.453,00 EUR brut­to nebst Jah­res­zin­sen in Höhe von 5 Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz aus 726,50 EUR seit dem 15.09.2008 und aus 726,50 EUR seit dem 15.10.2008 zu zah­len.

Die Kos­ten des Rechts­streits wer­den der Be­klag­ten auf­er­legt.

II. Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten um ei­nen An­spruch des Klägers aus An­nah­me­ver­zug. Der Kläger ist bei der Be­klag­ten bzw. de­ren Rechts­vorgänger seit dem 01.08.1995 beschäftigt. Er ist am 09.11.1972 ge­bo­ren.

Mit Schrei­ben vom 22.04.2008 kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis zum 31.07.2008. Mit Kla­ge­er­he­bung un­ter dem 11.11.2008 hat der Kläger ge­gen die Be­klag­te An­nah­me­ver­zugs­ansprüche für die Mo­na­te Au­gust und Sep­tem­ber 2008 gel­tend ge­macht. Die­se Kla­ge hat das Ar­beits­ge­richt Stral­sund mit Ur­teil vom 11. März 2009 - 3 Ca 522/08 - ab­ge­wie­sen und die Kos­ten des Rechts­streits dem Kläger auf­er­legt. Es hat aus­geführt, es sei unschädlich, dass der Kläger die dreiwöchi­ge Kla­ge­frist gem. § 4 KSchG nicht ge­wahrt ha­be. Un­ter Be­zug­nah­me auf die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (Ur­tei­le vom 15.12.2005 und 09.02.2006 - NZA 2006, Sei­te 791 und NZA 2006 Sei­te 1207 -) hat es aus­geführt, die un­zu­tref­fen­de Be­rech­nung der Frist ma­che die or­dent­li­che Kündi­gung nicht ins­ge­samt un­wirk­sam. Der An­spruch sei je­doch ver­wirkt. Nach Er­halt der Kündi­gung ha­be der Kläger die Möglich­keit ge­habt, die Be­klag­te auf die un­rich­ti­ge Be­rech­nung der Frist auf­merk­sam zu ma­chen. Auf­grund des lan­gen War­tens sei sein An­spruch ver­wirkt. Darüber hin­aus hätte er der Be­klag­ten sei­ne Ar­beit an­bie­ten müssen. Die Be­klag­te ha­be ei­ne nach ih­rer Auf­fas­sung frist­gemäße or­dent­li­che Kündi­gung aus­ge­spro­chen. Die Be­klag­te ha­be kei­ner­lei Hin­wei­se dar­auf ge­habt, dass der Kläger ir­gend­wann ein­mal Ver­zugs­lohn­ansprüche gel­tend ma­chen würde. Sie hat­te des­halb auch kei­ner­lei An­lass, dem Kläger über den 31.07.2008 hin­aus ei­nen funk­ti­onsfähi­gen Ar­beits­platz an­zu­bie­ten, um die Fol­gen des An­nah­me­ver­zu­ges zu um­ge­hen.

Hin­sicht­lich der wei­te­ren Ausführun­gen wird auf die erst­in­stanz­li­che Ent­schei­dung Be­zug ge­nom­men.

Die­ses Ur­teil ist dem Kläger am 01.04.2009 zu­ge­stellt wor­den. Er hat da­ge­gen Be­ru­fung ein­ge­legt, die am 27.04.2009 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­gen ist. Die Be­ru­fungs­be­gründung ist am 28.05.2009 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­gen.

Der Kläger ist der Auf­fas­sung, der An­spruch sei nicht ver­wirkt. Es bestünden kei­ne An­halts­punk­te, dass der Ar­beit­ge­ber sich dar­auf ein­ge­stellt ha­be, dass kei­ne For­de­run­gen mehr ge­gen ihn gel­tend ge­macht wer­den könn­ten. Der An­spruch wäre erst nach 36 Mo­na­ten verjährt ge­we­sen. Auch ha­be sich die Be­klag­te in An­nah­me­ver­zug ent­spre­chend der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts be­fun­den.

Der Kläger be­an­tragt,

un­ter Auf­he­bung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Stral­sund vom 11. März 2009 die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, ei­nen Be­trag in Höhe von 1.299,99 EUR an die Bun­des­agen­tur für Ar­beit - Agen­tur für Ar­beit Ber­gen - so­wie an den Kläger ei­nen Be­trag in Höhe von 1.453,00 EUR brut­to nebst Jah­res­zin­sen in Höhe von 5 Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz aus 726,50 EUR seit dem 15.09.2008 und aus 726,50 EUR seit dem 15.10.2008 zu zah­len.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Sie tritt der an­ge­foch­te­nen Ent­schei­dung bei.

Durch den Be­ru­fungskläger sei auch si­gna­li­siert wor­den, dass er ein neu­es Ar­beits­verhält­nis be­gründet ha­be. Des­halb kom­me ihm die Kündi­gung zum 31.07.2009 ent­ge­gen. Es sei Sa­che des Be­ru­fungsklägers ge­we­sen, zu si­gna­li­sie­ren, dass er an ei­ner Wei­ter­beschäfti­gung in­ter­es­siert ge­we­sen wäre.

Ent­schei­dungs­gründe

Die zulässi­ge Be­ru­fung ist be­gründet.

Der Kläger hat ge­gen die Be­klag­te ei­nen An­spruch aus An­nah­me­ver­zug in der gel­tend ge­mach­ten Höhe, wo­bei Ein­zel­hei­ten in­so­weit von der Be­klag­ten nicht be­strit­ten wor­den sind. Da­bei ist es un­pro­ble­ma­tisch, dass der Kläger die Leis­tung ei­nes Be­tra­ges in Höhe von 1.299,00 EUR an die Bun­des­agen­tur für Ar­beit be­gehrt. Der Ar­beit­neh­mer kann Vergütungs­ansprüche, die we­gen der Zah­lung von Ar­beits­lo­sen­geld auf die Bun­des­agen­tur für Ar­beit über­ge­gan­gen sind, im We­ge der ge­willkürten Pro­zess­stand­schaft für die Bun­des­agen­tur gel­tend ma­chen (BAG vom 19.03.2008 - 5 AZR 432/07 -).

Im Übri­gen gilt im Ein­zel­nen Fol­gen­des:

1. Die Kündi­gung vom 12.04.2008 hat das Ar­beits­verhält­nis erst mit dem 30.09.2009 be­en­det. Auf­grund der Be­triebs­zu­gehörig­keit von mehr als 12 Jah­ren ist ei­ne Kündi­gungs­frist von 5 Mo­na­ten zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats gem. § 622 Abs. 2 Satz 1 zu­grun­de zu le­gen. Die Be­stim­mung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, wo­nach bei der Be­rech­nung der Beschäfti­gungs­dau­er Zei­ten, die vor der Voll­endung des 25. Le­bens­jah­res des Ar­beit­neh­mers lie­gen, nicht berück­sich­tigt wer­den, ist un­wirk­sam. Die­se Vor­schrift ist we­gen des Ver­s­toßes ge­gen den eu­ro­pa­recht­li­chen Gleich­heits­satz nicht an­zu­wen­den. Hin­sicht­lich der Ein­zel­hei­ten wird auf die ausführ­li­che Ent­schei­dung des Ur­teils des Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg vom 26.08.2008 - 7 Sa 252/08 - (do­ku­men­tiert un­ter Ju­ris) Be­zug ge­nom­men.

2. Der Kläger war im vor­lie­gen­den Fall auch nicht ver­pflich­tet, die Be­klag­te durch ein aus­drück­li­ches An­ge­bot sei­ner Ar­beits­kraft für die Mo­na­te Au­gust und Sep­tem­ber in An­nah­me­ver­zug zu set­zen. Nach der ständi­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts seit 1986 be­darf es im Ar­beits­verhält­nis kei­nes An­ge­bo­tes, wenn für die vom Gläubi­ger zu er­brin­gen­de Mit­wir­kungs­hand­lung ei­ne Zeit nach dem Ka­len­der be­stimmt ist und die­se Hand­lung nicht recht­zei­tig vor­ge­nom­men wer­den kann. Die nach dem Ka­len­der mit­be­stimm­te Mit­wir­kungs­hand­lung des Ar­beit­ge­bers be­steht dar­in, dem Ar­beit­neh­mer ei­nen funk­ti­onsfähi­gen Ar­beits­platz zur Verfügung zu stel­len und ihm Ar­beit zu­zu­wei­sen. Da der Ar­beit­ge­ber dem Ar­beit­neh­mer mit der Kündi­gung den ent­ge­gen­ste­hen­den Wil­len zu er­ken­nen gibt, muss der Ar­beit­ge­ber ihn wie­der zur Ar­beit auf­for­dern, wenn er trotz Kündi­gung nicht in An­nah­me­ver­zug ge­ra­ten will.

Die­se Grundsätze sind auch auf die Fälle zu über­tra­gen, in de­nen die Kündi­gung des Ar­beit­ge­bers zwar grundsätz­lich wirk­sam ist, der Ar­beit­ge­ber je­doch ei­ne zu kur­ze Kündi­gungs­frist gewählt hat. Auch in die­sem Fal­le gibt der Ar­beit­ge­ber dem Ar­beit­neh­mer zu er­ken­nen, dass er nach Ab­lauf der von ihm ge­nann­ten Kündi­gungs­frist auf die Diens­te des Ar­beit­neh­mers ver­zich­tet. Dem­ent­spre­chend muss er von die­sem Zeit­punkt an bis zum Ab­lauf der recht­lich ge­bo­te­nen Kündi­gungs­frist dem Ar­beit­neh­mer ei­nen funk­ti­onsfähi­gen Ar­beits­platz ein­rich­ten und ihm Ar­beit zu­wei­sen, will er nicht in An­nah­me­ver­zug ge­ra­ten (BAG - 2 AZR 280/86 -, BAG vom 28.05.1998 - 2 AZR 496/97 -).

Der Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts Düssel­dorf vom 17.07.1992 - 5 Sa 642/97 - wäre nach Auf­fas­sung des Ge­richts nur dann zu fol­gen, wenn feststünde, dass ei­ner­seits die Be­klag­te sich bei Aus­spruch der Kündi­gung über die un­zu­tref­fen­de An­wen­dung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ge­irrt hat und der Kläger spie­gel­bild­lich hier­zu be­reits bei Er­halt der Kündi­gung ge­wusst hat, dass der Ar­beit­ge­ber die Kündi­gungs­frist nicht rich­tig be­rech­net hat. In die­sem Fall könn­te man tatsächlich die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass der Ar­beit­neh­mer auch un­ter dem Ge­sichts­punkt von Treu und Glau­ben ver­pflich­tet wäre, ge­ra­de an­ge­sichts des ein­deu­ti­gen, (wenn auch eu­ro­pa­rechts­wid­ri­gen) Ge­set­zes­wort­lauts den Ar­beit­ge­ber dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass er mit der Be­rech­nung der Kündi­gungs­frist nicht ein­ver­stan­den sei und des­halb sei­ne Ar­beits­kraft auch für die fol­gen­den bei­den Mo­na­te an­bie­te.

Ei­ne der­ar­ti­ge An­nah­me ist im vor­lie­gen­den Fall je­doch völli­ge Spe­ku­la­ti­on. Es ist möglich, (wenn auch un­wahr­schein­lich), dass der Ar­beit­ge­ber bei Aus­spruch der Kündi­gung die im Schrift­tum be­reits seit länge­rem ver­tre­te­nen Auf­fas­sun­gen zu der Un­wirk­sam­keit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ge­kannt hat und mit Aus­spruch der Kündi­gung es ein­fach ris­kie­ren woll­te und eben­so ist es möglich, dass er schlicht auf die For­mu­lie­rung des Ge­set­zes ver­traut hat. Glei­ches gilt für den Ar­beit­neh­mer. Auch er kann von der Recht­spre­chung be­reits zum Er­halt des Kündi­gungs­zeit­punkts ge­wusst ha­ben oder von der Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung erst zu ei­nem späte­ren Zeit­punkt nach Ab­lauf des recht­li­chen En­des des Ar­beits­verhält­nis­ses er­fah­ren ha­ben.

Die­se beid­sei­ti­ge Un­ge­wiss­heit kann im vor­lie­gen­den Fall nur zu Guns­ten des Ar­beit­neh­mers auf­gelöst wer­den. Es ist zwar außer­or­dent­lich un­be­frie­di­gend, dass ein Ar­beit­ge­ber bei Aus­spruch ei­ner Kündi­gung hin­sicht­lich der Be­rech­nung der Kündi­gungs­frist nicht auf den Ge­set­zes­wort­laut ver­trau­en kann. Es wäre aber auch für den Ar­beit­neh­mer un­be­frie­di­gend, wenn Ansprüche aus An­nah­me­ver­zug trotz eu­ro­pa­rechts­wid­ri­ger Be­rech­nung der Kündi­gungs­frist mit der Be­gründung zurück­ge­wie­sen würden, der Ar­beit­ge­ber ha­be auf den Ge­set­zes­wort­laut ver­trau­en dürfen, wenn be­reits in den Jah­ren 2006 und 2007 in Schrift­tum und Recht­spre­chung fast ein­hel­lig die Auf­fas­sung ver­tre­ten wor­den ist, dass die frag­li­che Vor­schrift un­wirk­sam sei.

Die­ser Kon­flikt der ge­gen­sei­ti­gen In­ter­es­sen ist im vor­lie­gen­den Fall zu Guns­ten des Ar­beit­neh­mers auf­zulösen, da der Ar­beit­ge­ber im vor­lie­gen­den Fall ak­tiv ge­wor­den ist und ei­ne Kündi­gung aus­ge­spro­chen hat. Da­mit ob­liegt es auch sei­ner Sorg­falts­pflicht, sich um­fas­send über die Rechts­la­ge zu in­for­mie­ren. Dass dies für klei­ne und mitt­le­re Be­trie­be ei­ne er­heb­li­che Be­las­tung dar­stellt, wird vom Ge­richt nicht ver­kannt. Die grundsätz­li­che Fra­ge, ob für die­se Art von Be­trie­ben ein an­de­res, sprich leich­te­res Ar­beits­recht an­zu­wen­den wäre, kann je­doch nicht von der Ar­beits­ge­richts­bar­keit, son­dern al­len­falls vom Ge­setz­ge­ber be­ant­wor­tet wer­den. Aus den glei­chen Gründen ist der An­spruch des Klägers ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts Stral­sund, auch nicht ver­wirkt.

3. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG in Ver­bin­dung mit § 91 ZPO.

Die Re­vi­si­on ist gem. § 72 Abs. 2 ArbGG we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung zu­ge­las­sen wor­den.

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