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LAG Bremen, Urteil vom 16.12.2015, 3 Sa 60/15
Schlagworte: | Außerordentliche Kündigung, Sexuelle Belästigung | |
Gericht: | Landesarbeitsgericht Bremen | |
Aktenzeichen: | 3 Sa 60/15 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 16.12.2015 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven, Urteil vom 23.04.2015, 5 Ca 5261/14 nachgehend: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.06.2017, 2 AZR 302/16 |
|
LANDESARBEITSGERICHT BREMEN
Verkündet am:
16.12.2015
IM NAMEN DES VOLKES
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
URTEIL
3 Sa 60/15
5 Ca 5261/14 Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven (Bremen)
In dem Rechtsstreit
Kläger und Berufungskläger,
Proz.-Bev.:
gegen
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Proz.-Bev.:
hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Bremen aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. November 2015
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht
den ehrenamtlichen Richter
die ehrenamtliche Richterin
für Recht erkannt:
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 23.04.2015 - 5 Ca 5261/14 - abgeändert und festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch Kündigung vom 07.11.2014 außerordentlich fristlos noch durch Kündigung vom 12.11.2014 hilfsweise ordentlich beendet worden ist.
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2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Arbeiter weiter zu beschäftigen.
3. Die Revision wird gegen dieses Urteil nicht zugelassen.
T A T B E S T A N D:
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen sowie einer hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung und Weiterbeschäftigung.
Die Beklagte betreibt ein Stahlwerk in B. . Sie beschäftigt ständig mehr als 10 Mitarbeiter. Bei der Beklagten besteht ein Betriebsrat. Der Kläger ist seit dem 04.06.1991 bei der Beklagten als Arbeiter beschäftigt. Er wurde am ...1970 geboren, ist verheiratet und drei Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Auf den Monat bezogen erhält der Kläger eine durchschnittliche Vergütung von € 3.978,78. In dem Betrieb der Beklagten existiert eine Betriebsvereinbarung vom 01.02.2005 mit dem Titel „Respektvolle Zusammenarbeit“ (Bl. 39 f. d.A.). In der Präambel wird die Bedeutung einer respektvollen Zusammenarbeit der Mitarbeiter untereinander beschrieben. Weiter werden verschiedene Arten der Diskriminierung, u.a. sexuelle Belästigung, näher beschrieben. Unter Ziffer 5 der Betriebsvereinbarung heißt es:
„Maßnahmen bei Verstößen gegen die Grundsätze der BV
Arbeitgeber und Betriebsrat beraten gemeinsam über zu treffende Maßnahmen. Auf Grundlage des Beratungsergebnisses ergreift der Arbeitgeber angemessene Maßnahmen, wie z.B.:
- Belehrung
- Verwarnung
- Abmahnung
- Umsetzung
- Versetzung
- Kündigung.
Im Übrigen gelten die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen.“
Mit Schreiben vom 07.11.2014, dem Kläger am 10.11.2014 zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristlos (Bl. 5 d.A.). Mit Schreiben vom 12.11.2014, dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das Ar-
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beitsverhältnis mit dem Kläger vorsorglich und ohne Präjudiz für die Wirksamkeit der Kündigung vom 07.11.2014 ordentlich zum 30.06.2015 (Bl. 10 d.A.). Den Kündigungen liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Am 22.10.2014 war der Kläger zusammen mit zwei Fremdfirmenmitarbeitern, den Zeugen O. T. und M. B. , in der Frühschicht bei der Beklagten im Bereich D 3 tätig. Der Kläger war als Beschrifter dafür zuständig, die Coils zu etikettieren. Hierfür druckte er zunächst die Etiketten aus, um sie sodann an die Coils zu kleben. Die Zeugen T. und B. waren dafür zuständig, die Coils zu verpacken und diese abzubinden. Die zu verpackenden Coils stehen rechtwinkelig nummeriert von 1) bis 4) zueinander. Es wird Bezug genommen auf das zur Akte gereichte Foto (Anlage A10, Bl. 45 d.A.). Das Foto gibt nicht die konkrete Situation vom 22.10.2014 wieder, zeigt aber, wie die Coils üblicherweise nebeneinander stehen. Auch am 22.10.2014 standen die Coils entsprechend nebeneinander, wobei der genaue Abstand zwischen den Coils unter den Parteien streitig ist. Die Beklagte wirft dem Kläger vor, den Zeugen T. am 22.10.0214 gegen 9:00 Uhr von hinten in die Weichteile gekniffen und anschließend darüber gescherzt zu haben. Der Zeuge T. meldete den Vorfall zwei Tage später seinem Vorarbeiter. Dieser meldete den Vorfall dem Werkschutz. Der Zeuge T. äußerte diesem gegenüber schriftlich (Bl. 33 d.A.):
„Am 22.10.2014 war ich in der Frühschicht auf D3 als Verpacker eingesetzt. Als ich am Verpacken war, griff mich Herr Ö. von hinten in die Weichteile. Das war für mich sehr schmerzhaft. Herr Ö. machte über diese Tätigkeit auch noch dumme Sprüche. Diesen Tag und den folgenden hatte ich Schmerzen in dieser Gegend, da ich auch Probleme mit meinen Nieren habe (Steine).“
Der Zeuge B. äußerte sich gegenüber dem Werkschutz schriftlich wie folgt (Bl. 35 d.A.):
„Wir waren am Coil am Packen und da kam der Ö. von hinten von der Seite und hat ihn in die Weichteile ziemlich heftig angefasst.“
Am 30.10.2014 wurden die Zeugen T. und B. durch den Personalbereich der Beklagten im Beisein der Betriebsratsmitglieder Z. und E. zum Vorfall befragt. Ausweislich der Aktennotiz zur Befragung des Zeugen T. vom 30.10.2014 hat dieser u.a. geäußert, dass der Kläger ihm plötzlich von hinten zwischen die Beine gefasst und am Hoden gedrückt habe. Er habe sich erschrocken und es habe wehgetan. Der Kläger habe gescherzt, wobei er sich an den genauen Wortlaut nicht erinnern könne (Bl. 32 d.A.). Aus der Aktennotiz zur Befragung des Zeugen B. vom 30.10.2014 folgt, dass der Zeuge B. den Vorfall gegenüber dem Personalbereich so schilderte, dass der Kläger seitlich von hinten in die Nähe des Zeugen T. gekommen sei und ihm zwischen die Beine gegriffen
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habe. Weiterhin, so der Zeuge B. , soll der Kläger anschließend mit den Worten „Du hast aber dicke Eier. Will noch jemand?“ gescherzt haben. Am 31.10.2014 wurde der Kläger ebenfalls im Beisein der Betriebsräte zu dem Vorfall angehört. Der Kläger bestritt die Tat. Er sagte, dass er höchstens im Vorbeigehen mit dem Arm an das Gesäß des Zeugen T. gekommen sei. Am 22.10.2014 gab es vor dem von der Beklagten geschilderten Vorfall zwischen dem Kläger und den Zeugen T. und B. keine Auseinandersetzungen. Die Zeugen T. und B. sind nicht mit dem Kläger befreundet. Schriftliche Abmahnungen liegen nicht vor. Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 31.10.2014 sowohl zur außerordentlichen als auch zur hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers an. In dem Schreiben teilte die Beklagte dem Betriebsrat u.a. die Sozialdaten des Klägers und dessen Tätigkeit bei der Beklagten mit. Zudem schilderte sie den Vorfall vom 22.10.2014 und die nachfolgenden Anhörungen der Beteiligten. Die Beklagte teilte dem Betriebsrat auch mit, dass eine vorsorgliche Untersuchung des Zeugen T. im Krankenhaus stattgefunden habe. Weiter teilte sie mit, dass der Zeuge T. seine Arbeit anschließend wieder habe aufnehmen können. Das Ergebnis der Untersuchung teilte die Beklagte nicht mit (Bl. 43 f. d.A.).
Der Kläger hat vorgetragen, den Zeugen T. bei der Durchführung seiner Arbeit unabsichtlich am Hinterteil berührt zu haben. Er sei, um die Etiketten für die Coils aufzukleben, zwischen den Coils 3) und 4) durchgegangen. Dort habe der Zeuge T. mit dem Rücken zu ihm gestanden. Der Abstand der Coils sei sehr eng gewesen, weshalb es zur versehentlichen Berührung des Zeugen T. gekommen sei. Da die Zeugen T. und B. im Zeitverzug gewesen seien, sei der Kläger auch sehr eiligen Schrittes gewesen. Der Kläger habe dem Zeugen T. weder in die Hoden gekniffen bzw. diese angefasst noch die ihm vorgeworfenen Äußerungen getätigt. Der Kläger habe die ihm vorgeworfene Tat auch nicht gegenüber den Werkschutzmitarbeitern zugegeben. Er habe diesen gegenüber vielmehr gesagt, dass die Behauptungen falsch seien und er eine solche Tat nicht begangen habe. Der Zeuge B. habe zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Seite des Coils gestanden. Von dieser Position aus habe der Zeuge B. nicht sehen können, ob und zu welcher Berührung es zwischen dem Kläger und dem Zeugen T. gekommen sei. Der Kläger hat bestritten, dass der Zeuge B. die dem Kläger vorgeworfenen Äußerungen gehört habe. Der zeitliche Ablauf spreche gegen die Behauptung der Beklagten. Anders sei nicht erklärbar, warum der Zeuge T. zunächst kommentarlos weitergearbeitet und den Vorfall erst zwei Tage später gemeldet habe. Jedenfalls spreche dieses Verhalten auch gegen die Schwere des Vorwurfs. Der Kläger hat mit Nichtwissen bestritten, dass die vorgelegten Aktennotizen die Berichte der Zeugen T. und B. zutreffend und voll-
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ständig wiedergeben. Der Kläger ist der Auffassung, dass das ihm vorgeworfene Verhalten ohnehin weder den Ausspruch einer außerordentlichen noch einer ordentlichen Kündigung rechtfertige. Als milderes Mittel hätte vielmehr eine Abmahnung völlig ausgereicht. Diese Abstufung ergebe sich auch aus Ziffer 5 der Betriebsvereinbarung. Durch den bisherigen Umgang der Beklagten mit vergangenen Vorfällen habe diese zudem signalisiert, dass sie Pflichtverletzungen auf Seiten der Arbeitnehmer nicht so ernst nehme. Anderenfalls hätte diese wohl bei früherem Fehlverhalten eine Abmahnung ausgesprochen. Auch sei die Betriebsratsanhörung unvollständig. Dem Betriebsrat sei lediglich mitgeteilt worden, dass eine Untersuchung stattgefunden habe, ohne zugleich das Ergebnis derselben mitzuteilen. Dies sei aber erforderlich gewesen, da festgestellt worden sei, dass die Schmerzen auf Nierensteinen beruhten.
Der Kläger hat beantragt:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten mit sofortiger Wirkung vom 07.11.2014 nicht aufgelöst wird.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.11.2014 nicht aufgelöst wird.
3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Arbeiter weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger habe am 22.10.2014 gegen 9:00 Uhr dem Zeugen T. schräg von hinten zwischen die Beine gefasst und diesen in dessen Weichteile (Hoden) gekniffen. Der Zeuge T. habe während des Vorfalls zur Verrichtung der Arbeit seine Arme oben gehabt und etwas breitbeinig gestanden. Der Kläger habe sich sodann mit seinem Verhalten gebrüstet und darüber gescherzt. Er habe gesagt: „Du hast aber dicke Eier“. Weiter habe er die Frage in den Raum gestellt: „Will noch jemand?“ Der Zeuge T. sei sprachlos und geschockt gewesen. Er habe zudem in der Nacht und am darauffolgenden Tag Schmerzen im Genitalbereich gehabt. Er habe den Vorfall zunächst insbesondere aus Schamgefühl nicht gemeldet. Auch habe er bei Äußerung seiner Schmerzen befürchtet, krankgeschrieben zu werden, was er wegen möglicher arbeitsrechtlicher Konsequenzen habe vermeiden wollen. Der Zeuge B. sei zur Tatzeit gerade
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um das Coil herumgekommen und habe so von der Seite auf die Situation schauen können. Er habe gesehen, wie der Kläger seinen Arm bzw. seine Hand zwischen den Beinen des Zeugen T. zurückgezogen habe. Erst am 24.10.2014 habe sich der Zeuge T. mit der Unterstützung von Herrn B. getraut, den Vorfall seinem Vorarbeiter zu melden, woraufhin der Werkschutz unterrichtet worden sei. Der Kläger habe gegenüber dem Werkschutz den Vorfall vom 24.10.2014 bestätigt und diesen versucht zu verharmlosen. Der Kläger habe geäußert, dass es sich um einen Spaß gehandelt habe, worüber alle gelacht hätten, sodass er sich keine Gedanken gemacht habe. Durch das schwere Fehlverhalten des Klägers sei das Vertrauensverhältnis zu dem Kläger nachhaltig erschüttert.
Der Kläger habe mit seinem Verhalten den Zeugen T. sowohl verbal als auch körperlich sexuell im Sinne von § 3 Abs.4 AGG belästigt.
Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen Olaf T. und Matthias B. . Wegen der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf den Beweisbeschluss sowie auf das Protokoll vom 23.04.2015 verwiesen.
Mit Urteil vom 23.04.2015 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass aufgrund der Einvernahme des Zeugen T. zur Überzeugung des Arbeitsgerichts feststehe, dass der Kläger dem Zeugen T. am 22.10.2014 in der Frühschicht von hinten in die Weichteile gegriffen und anschließend darüber gescherzt habe. Der Zeuge T. habe den Hergang plausibel und widerspruchsfrei geschildert. Die Aussage decke sich mit der Aussage des Zeugen T. vor dem Werkschutz. Der Zeuge habe direkt und nicht zögerlich und ohne Umschweife auf die ihm gestellten Fragen geantwortet. Erinnerungslücken habe er freimütig eingeräumt. Dass der Zeuge T. den Vorfall erst zwei Tage später gemeldet habe, mache seine Aussage nicht unglaubhaft. Dem Gericht erscheine das Verhalten des Zeugen vielmehr nachvollziehbar, da es in einer solchen Situation erklärlich sei, dass sich der Betroffene unbehaglich fühle und sich nur sehr ungern mitteile. Auch dass sich der Zeuge erstmals in der Zeugeneinvernahme inhaltlich zu den vom Kläger geäußerten Scherzen erklärt habe, während er sich zuvor darauf berufen habe, sich an den Wortlaut nicht erinnern zu können, erscheine nicht widersprüchlich. Der Zeuge habe stets betont, dass der Kläger direkt nach dem Vorfall Scherze hierüber gemacht habe. Auch in der Zeugeneinnahme vor Gericht habe der Zeuge bekundet, sich auf den genauen inhaltlichen Wortlaut nicht festlegen zu wollen. Die Zeugenaussage des Zeugen B. sei demgegenüber unergiebig für das Beweisthema gewesen, da dieser den eigentlichen Vorfall nicht gesehen habe. Da das Arbeitsgericht nach der Aussage des Zeugen T. vom Tathergang überzeugt war, hat es von einer Einvernahme weiterer Zeugen abgesehen.
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Weiter hat das Arbeitsgericht in seiner Urteilsbegründung ausgeführt, dass das Verhalten des Klägers den Tatbestand der sexuellen Belästigung nach § 3 Abs. 4 AGG erfülle. Gleichzeitig sei damit auch ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB gegeben. Im Rahmen der Interessenabwägung erweise sich die fristlose Kündigung als verhältnismäßig. Der Kläger habe mit seinem Verhalten das Persönlichkeitsrecht des Zeugen T. in erheblicher Weise verletzt. Angesichts der Schwere seines Fehlverhaltens habe der Kläger nicht damit rechnen können, dass die Beklagte ein solches Verhalten billigen werde. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien sei durch das Fehlverhalten des Klägers unwiederbringlich zerstört.
Gegen dieses ihm am 19.06.2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15.07.2015 Berufung eingelegt und diese am 14.08.2015 begründet.
Der Kläger vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Das Arbeitsgericht habe eine fehlerhafte Beweiswürdigung vorgenommen. Insbesondere habe es Erkenntnisse der wissenschaftlichen Aussagepsychologie außeracht gelassen. Der Würdigung der Beweisaufnahme des Zeugen T. könne nicht gefolgt werden. Darüber hinaus habe sich das Arbeitsgericht nicht damit auseinandergesetzt, dass der weitere vernommene Zeuge B. entweder von seinen außerhalb des Verfahrens gemachten Angaben vollständig abgerückt sei oder diese nicht mehr bestätigt habe. Insoweit sei die Schlussfolgerung des Arbeitsgerichts, die Entscheidung nicht auf die Aussage des Zeugen B. stützen zu können, unzureichend gewesen. Das Arbeitsgericht sei gehalten gewesen, dessen Aussage im Verhältnis zu seiner vorprozessualen Einlassung zu würdigen. Dass sich der Zeuge B. auf eine fehlende Erinnerung berufen habe, sei darin begründet, dass er zum Beweisthema keine eigene Erinnerung habe, weil dieser Vorgang tatsächlich nicht stattgefunden habe. Ein tatsächlicher Erinnerungsverlust sei demgegenüber eher ungewöhnlich. Aussagepsychologisch sei die Beweiseinvernahme des Zeugen B. auffällig, da dieser sich keineswegs auf eine noch präsente Erinnerung berufen habe und er etwa ausführlich das Geschehen oder das Randgeschehen beschrieben habe. Auch habe der Zeuge B. schon vorher von der gegenüber dem Werkschutz von ihm gemachten Aussage Abstand genommen. Das Arbeitsgericht habe sich rechtsfehlerhaft nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass der Zeuge B. von seiner vorprozessualen Einlassung Abstand genommen habe. Tatsächlich hätte das Arbeitsgericht hieraus den Schluss ziehen müssen, dass der Vorfall tatsächlich nicht stattgefunden habe. Jedenfalls hätte das Arbeitsgericht aufgrund des Verhaltens des Zeugen B. erhebliche Zweifel daran haben müssen, dass der Vorfall tatsächlich so, wie ursprünglich behauptet, stattgefunden habe. Auch
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habe es das Arbeitsgericht bei der Einvernahme des Zeugen B. unterlassen, diesen auf die entsprechenden Widersprüche seiner Aussagen hinzuweisen. Auch die Aussage des Zeugen T. sei unter Berücksichtigung aussagepsychologischer Erkenntnisse nicht geeignet, mit der hierfür erforderlichen Gewissheit das Beweisthema als erfüllt anzusehen. Auch hier sei die Beweiswürdigung durch das Arbeitsgericht fehlerhaft vorgenommen worden. So habe es der Aussage des Zeugen T. an Farbigkeit gefehlt. Insbesondere habe dieser wenig detailreich vorgetragen. Die ursprüngliche Lebendigkeit seiner Aussage sei im Laufe der Aussage rapide abgefallen. Insbesondere die Aussage des Zeugen T. , er könne sich an den Wortlaut der Äußerung des Klägers nach dem Vorfall erinnern, stehen in einem völligen Widerspruch zu den vorherigen Einlassungen des Zeugen. Es sei unter keinem Aspekt nachvollziehbar, weshalb der Zeuge diese Äußerungen in der zeitlichen Nähe nicht erinnert habe, er aber Monate später im Rahmen der gerichtlichen Zeugeneinvernahme eine solche Erinnerung gehabt habe. Diese Widersprüchlichkeit wecke erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Aussage. Zweifel müssten auch deshalb bestehen, weil der Zeuge B. die für das dem Kläger vorgeworfene Verhalten erforderliche Körperhaltung des Klägers nicht bestätigt habe. Hätte der Kläger dem Zeugen T. in den Genitalbereich gegriffen, wäre es hierfür erforderlich gewesen, dass sich der Kläger dafür in erheblichem Maße vorbeugt bzw. gebückt hätte. Dies wiederum hätte der Zeuge B. sehen müssen. Dieser habe jedoch eine solche Körperhaltung in einer Zeugenaussage nicht bestätigt. Von einer gebückten oder vorgebeugten Haltung habe der Zeuge nichts gesagt. Bei einem angeblich schmerzhaften Griff in den Genitalbereich, wie ihn der Zeuge T. behauptet, wäre auch ein Aufschrei des Betroffenen zu erwarten gewesen. Einen solchen habe es jedoch nach den Zeugenaussagen nicht gegeben. Dies habe das Arbeitsgericht im Rahmen der Beweiswürdigung nicht hinreichend berücksichtigt. Dass es bei dem dem Kläger vorgeworfenen Verhalten zu einem solchen Aufschrei oder zu einer Fluchtbewegung des Zeugen T. gekommen wäre, ergebe sich auch aus der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme des Diplom-Psychologen S. . Aus dieser Stellungnahme ergebe sich auch, dass für einen solchen Griff durch den Kläger eine extreme Körperbeugung erforderlich gewesen wäre, die sämtliche anwesenden Zeugen deutlich hätten wahrnehmen müssen. Auch die ärztliche Stellungnahme des Herrn Doktor Th. bestätige, dass ein Aufschrei angesichts des dem Kläger vorgeworfenen Verhaltens zu erwarten gewesen wäre. Auch dieser bestätige, dass für das dem Kläger vorgeworfene Verhalten eine starke Beugebewegung des Klägers erforderlich gewesen wäre. Die Schmerzattacke des Zeugen T. am 24.10.2014 sei laut einer urologischen Untersuchung durch eine Nierenkolik des Klägers verursacht worden.
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Ein Zusammenhang dieser Schmerzen mit dem hier in Streit stehenden Vorfall zwei Tage zuvor sei daher auszuschließen.
Die Betriebsratsanhörung sei fehlerhaft, da wesentliche Informationen durch die Beklagte zurückgehalten worden seien. Der Zeuge T. sei zur ärztlichen Untersuchung in ein Klinikum gefahren worden. Diese Untersuchung habe nicht ergeben, dass der Zeuge T. einen Griff in den Genitalbereich erlitten habe. Schmerzen, die der Zeuge womöglich verspürt habe, resultierten aus den Nierensteinen des Zeugen. Über das Untersuchungsergebnis im Klinikum sei der Betriebsrat nicht unterrichtet worden, obwohl dies für die Beurteilung des Vorfalls wesentlich gewesen sei.
Der Ausspruch einer Kündigung sei auch unverhältnismäßig, da eine Abmahnung eine ausreichende Sanktion gewesen wäre, unterstellt, der Kläger habe das ihm vorgeworfene Verhalten tatsächlich begangen. Insoweit verweist der Kläger auf einen Vorfall aus dem Jahre 2000, in dem die Beklagte einem Arbeitnehmer, der seinem Kollegen unstreitig schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen habe, nicht gekündigt habe. Vielmehr habe die Beklagte - insoweit unstreitig - das damalige Fehlverhalten des Kollegen lediglich mit einer Abmahnung und einer Versetzung sanktioniert.
Der Kläger beantragt:
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen vom 23 April 2015 - 5 Ca 5261/14 - wird abgeändert.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten mit sofortiger Wirkung vom 07.11.2014 nicht aufgelöst worden ist.
3. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.11.2014 nicht aufgelöst wird.
4. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Arbeiter weiter zu beschäftigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts sei nicht zu beanstanden. Insbesondere könne den Einlassungen des Klägers zum Tathergang nicht gefolgt werden, da eine räumliche Enge, die dazu geführt ha-
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be, dass der Kläger versehentlich mit der Hand das Gesäß des Zeugen T. berührt habe, nicht bestanden habe. Die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen seien im Ergebnis nicht aussagekräftig, da die Ärzte Mutmaßungen anstellten über eine Situation, die sie selbst nicht gesehen hätten. Die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß erfolgt. Neben den Informationen des Anhörungsschreibens vom 31.10.2014 sei der Betriebsrat durch Beteiligung der Betriebsräte Z. , E. und N. an den Gesprächen mit den Zeugen T. und B. sowie dem Gespräch mit dem Kläger umfassend informiert worden. Eine fehlende Information über das Untersuchungsergebnis des Klägers im Klinikum stehe dem nicht entgegen, da dieses Ergebnis für die Beklagte ersichtlich nicht Grundlage der Kündigungsentscheidung gewesen sei. Die fristlose Kündigung sei als Aktion auch verhältnismäßig. Sie entspreche dem Verhaltenskodex der Betriebsvereinbarung. Ein Vorfall aus dem Jahre 2000 stehe dieser Beurteilung nicht entgegen. Der Abschluss einer Betriebsvereinbarung im Jahre 2005 zeige, dass die Betriebsparteien die Notwendigkeit eines sensibilisierten Verhaltens erkannt hätten. Das Verhalten des Klägers sei jedenfalls nach heutigem Zeitgeist in keiner Weise akzeptabel.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E:
A. Die Berufung des Klägers gegen das am 23.04.2015 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven ist zulässig. Das Rechtsmittel ist als in einem Rechtsstreit über den Bestand eines Arbeitsverhältnis eingelegt ohne Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes statthaft (§§ 64 Abs.2, 8 Abs.2 ArbGG). Der Kläger hat es auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 519, 520 ZPO, 66 Abs. 1 ArbGG).
B. Die Berufung ist auch begründet.
I. Die Begründetheit der Berufung ergibt sich jedoch nicht aus einer fehlerhaften Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts.
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1. Nach § 64 Abs. 6 ArbGG iVm § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche hiernach die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhaltes unterlaufen sind, ergeben (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucksache 14/4722, Seite 100; BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03 - NJW 2004, 1876 ff., zu II 2 a der Gründe). Ein solcher Verfahrensfehler liegt insbesondere vor, wenn die Beweiswürdigung im erstinstanzlichen Urteil den Anforderungen, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind, nicht genügt. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (BGH 11.02.1987 - IV b ZR 23/86 - NJW 1987, 1587, zu 2 a der Gründe; BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03 - a. a. O., zu II 2 a aa der Gründe).
2. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, wenn das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt, als das Gericht der Vorinstanz (BVerfG 12.06.2003 - 1 BVR 2385/02 - NJW 2003, 2534). Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung des Berufungsgerichtes an die erstinstanzlich getroffenen Feststellungen entfallen lässt, können sich auch ergeben, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO genügt, weil sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denk- und Erfahrungsgesetze verstößt (BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03 - NJW 2004, 845; 11. Februar 1987, IVb ZR 23/86, NJW 1987, 1557, 1558; 9. Juli 1999, V ZR 12/98, NJW 1999, 3481, 3482; LAG Rheinland-Pfalz 22. September 2011 - 11 Sa 198/11). Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt u.a. dann vor, wenn Umständen Indizwirkungen zuerkannt werden, die sie nicht haben können, oder wenn die Ambivalenz von Indiztatsachen nicht erkannt wird (BGH 22. Januar 1991, VI ZR 97/90, NJW 1991, 1894, 1895; Urt. v. 23. Januar 1997, I ZR 29/94, NJW 1997, 2757, 2759; 12. März 2004 - V ZR 257/03 -, BGHZ 158, 269-282, Rn. 9).
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3. Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze bei Beachtung des Berufungsvorbringens erweist sich die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts als rechtsfehlerfrei. Für die Kammer ist nicht ersichtlich, dass die Überzeugungsbildung des Arbeitsgerichts unter Verstoß gegen die genannten Grundsätze erfolgte.
3.1 Verstöße gegen zivilprozessuale Vorschriften bei der Zeugeneinvernahme selbst sind nicht ersichtlich.
3.2 Auch die Beweiswürdigung kann im Ergebnis nicht beanstandet werden.
3.2.1 Das Arbeitsgericht hat seine Entscheidung dabei allein auf die Aussage des Zeugen T. gestützt. Der von dem Zeugen T. geschilderte Tathergang verstößt nicht gegen Denkgesetze. Der Kläger kann dem Zeugen T. , so wie von diesem geschildert, dessen Hoden mit der Hand schmerzhaft zusammengedrückt haben. Ein solches Verhalten ist anatomisch denkbar und möglich. Es erforderte allerdings, dass sich der Kläger bei diesem Verhalten vorgebeugt hat bzw. etwas in die Hocke gegangen ist. Etwas anderes ergibt sich nicht von den durch den Kläger vorgelegten Stellungnahmen der Ärzte. Soweit diese vorgetragen haben, für einen solchen Griff des Klägers sei eine „extreme Körperhaltung“ erforderlich gewesen, schließt dies die tatsächliche Möglichkeit eines solchen Handelns nicht aus. Zudem erläutern beide Ärzte nicht, was sie mit dem Begriff „extreme Körperhaltung“ meinen. Allein dass sich der Kläger für das Verhalten vorbeugen musste bzw. er in die Hocke gehen musste, erscheint der Kammer keine Körperhaltung zu sein, die als „extrem“ im Sinne einer außergewöhnlichen, besondere körperliche Anstrengungen erfordernde Körperhaltung anzusehen ist.
3.2.2 Für die Kammer ist auch nicht erkennbar, dass die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts unter Verstoß gegen aussagepsychologische Grundsätze erfolgte, bei deren Beachtung eine andere Entscheidung geboten gewesen wäre. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auf der Basis der abgeschlossenen Beweisaufnahme die richterliche Würdigung einen internen Vorgang in der Person der Richter zur Prüfung der Frage darstellt, ob ein Beweis gelungen ist. Im Rahmen dieses internen Vorgangs verweist § 286 ZPO ganz bewusst auf das subjektive Kriterium der freien Überzeugung des Richters und schließt damit objektive Kriterien - insbesondere die naturwissenschaftliche Wahrheit als Zielpunkt - aus. Die gesetzliche Regelung befreit den Richter bzw. das richterliche Kollegium von jedem Zwang bei seiner Würdigung und schließt es damit auch aus, dass das Gesetz dem Richter vorschreibt, wie er Be-
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weise einzuschätzen und zu bewerten hat. Dabei ist Bezugspunkt der richterlichen Würdigung nicht nur das Ergebnis der Beweisaufnahme, sondern der gesamte Inhalt der mündlichen Verhandlung (vgl. Münchner Kommentar zur ZPO - Prütting, 4. Auflage 2013, § 286 Rn. 1 ff.). Hinsichtlich der Anforderungen an die richterliche Überzeugung ist dabei von Folgendem auszugehen: Die richterliche Überzeugung ist nicht gleichzusetzen mit persönlicher Gewissheit. Der Begriff der Gewissheit stellt nämlich absolute Anforderungen an eine Person. Er lässt für - auch nur geringe - Zweifel keinen Raum. Dies wird gesetzlich aber nicht verlangt; die gesetzliche Regelung geht vielmehr davon aus, das Gericht müsse etwas für wahr "erachten". Bei dem Begriff der richterlichen Überzeugung geht es also nicht um ein rein personales Element der subjektiven Gewissheit eines Menschen, sondern darum, dass der Richter in seiner prozessordnungsgemäßen Stellung bzw. das Gericht in seiner Funktion als Streit entscheidendes Kollegialorgan eine prozessual ausreichende Überzeugung durch Würdigung und Abstimmung erzielt. Daraus folgt, dass es der richterlichen Überzeugung keinesfalls im Weg steht, wenn dem Gericht aufgrund gewisser Umstände Unsicherheiten in der Tatsachengrundlage bewusst sind. Unerheblich für die Beweiswürdigung und die Überzeugungsbildung ist dabei auch die Frage der Beweislast. Richterliche Überzeugung ist die prozessordnungsgemäß gewonnene Erkenntnis des einzelnen Richters oder der Mehrheit des Kollegiums, dass die vorhandenen Eigen- und Fremdwahrnehmungen sowie Schlüsse ausreichen, die Erfüllung des vom Gesetz vorgesehenen Beweismaßes zu bejahen. Es darf also weder der besonders leichtgläubige Richter noch der generelle Skeptiker ein rein subjektives Empfinden als Maß der Überzeugung setzen, sondern jeder Richter muss sich bemühen, unter Beachtung der Prozessgesetze, Ausschöpfung der gegebenen Erkenntnisquellen und Würdigung aller Verfahrensergebnisse in gewissenhafter und vernünftiger Weise eine Entscheidung nach seiner Lebenserfahrung darüber zu treffen, ob im Urteil von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung auszugehen ist. Dabei muss sich das Gericht allerdings der Gefahren für jede Wahrheitsfindung bewusst sein (BGH 17. Februar 70 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 = NJW 1970, 946; LAG Rheinland-Pfalz 22. September 2011 - 11 Sa 198/11; vgl. Münchner Kommentar zur ZPO - Prütting a. a. O., Rn. 28 ff).
3.2.3 Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.
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a) Soweit die Berufungsbegründung dabei auf eine fehlerhafte Beweiswürdigung der Aussage des Zeugen B. abstellt, ist bereits nicht ersichtlich, dass ein solcher etwaiger Fehler Einfluss auf die Urteilsfindung des Arbeitsgerichts hatte, also, bei aus Sicht des Klägers unterstellter korrekter Beweiswürdigung der Aussage des Zeugen B. das Arbeitsgericht zu dem Ergebnis hätte kommen müssen, dass der Kläger das ihm vorgeworfene Verhalten tatsächlich nicht begangen hat. Dies deshalb, weil das Arbeitsgericht die Aussage des Zeugen B. ausdrücklich bei der Urteilsfindung und Beweiswürdigung unbeachtet gelassen hat. Da das Arbeitsgericht seine Beweiswürdigung allein auf die Aussage des Zeugen T. gestützt hat, könnte eine Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung der Aussage des Zeugen B. allein dann Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben, wenn eine andere Beweiswürdigung der Aussage des Zeugen B. zwingend auch zu einer anderen Beweiswürdigung der Aussage des Zeugen T. führen muss. Soweit der Kläger diesbezüglich meint, die Widersprüchlichkeit in den Aussagen des Zeugen B. gegenüber dem Werkschutz und als Zeuge vor Gericht lasse allein den Schluss zu, dass das von ihm ursprünglich geschilderte Verhalten tatsächlich gar nicht stattgefunden habe, ist nicht zwingend. Das Arbeitsgericht hat aus der Widersprüchlichkeit der Aussagen des Zeugen B. die einzig richtige und nachvollziehbare Schlussfolgerung gezogen, diese Aussage im Rahmen der Beweiswürdigung unberücksichtigt zu lassen. Die Korrektur der ursprünglichen Angaben des Zeugen B. zu dem Vorgang am 22.04.2014 ist im Hinblick auf Erkenntnisse aus der Aussagepsychologie nämlich durchaus nachvollziehbar.
Die Rolle des Zeugen B. ist dabei mit einem so genannten „Knallzeugen“ bei einem Verkehrsunfall vergleichbar. Damit sind solche Zeugen gemeint, die erst durch die Signalwirkung eines Ereignisses (i. d. R. das typische Geräusch zerberstenden Glases und deformierten Blechs) auf einen Unfall aufmerksam werden, dessen Ablauf ihrer optischen Wahrnehmung entzogen war. Die Aussagen solcher Zeugen haben von vornherein nur geringen Beweiswert (vgl. OLG Celle 18. März 1998 - 20 U 1/98 -, Rn. 5, juris). Werden sich solche Zeugen ihrer Rolle bewusst, liegt eine Korrektur der ursprünglichen Aussage durchaus nahe (vgl. VG Köln 16. Dezember 2010 - 26 K 2017/10 -, Rn. 46, juris). Der Aussage des Zeugen B. lässt sich entnehmen, dass dieser die eigentliche Tat gerade nicht gesehen hat. Die vorliegenden Umstände sprechen dafür, dass der Zeuge B. den Kläger und den Zeugen T. erst zu dem
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Zeitpunkt gesehen hat, als die eigentliche Tat, der Griff des Klägers in die Hoden des Zeugen T. , bereits erfolgt war.
b) Auch die Aussage des Zeugen T. erweist sich unter Beachtung aussagepsychologischer Grundsätze nicht als derart zweifelhaft, dass die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts als fehlerhaft zu betrachten wäre.
Dabei legt die Kammer nach § 286 ZPO im Rahmen der Würdigung der Aussage maßgeblich folgende „Realitätskriterien“ zugrunde: Unmittelbarkeit: Der Hörer der Aussage hat das Gefühl, er sei selbst dabei gewesen; Farbigkeit: Die erlogene Aussage ist genauso farblos und simpel, wie wenn Sie sie selbst erfunden hätten; Lebendigkeit: Alles ist in Bewegung, es ‚passiert’ viel; Sachliche Richtigkeit: Die Aussage ist in sich widerspruchsfrei, die mitgeteilten Tatsachen sind möglich; Psychologische Stimmigkeit: Der Charakter der geschilderten Person und die ihr zugeschriebenen Handlungen passen zusammen; die geschilderten Handlungsabläufe sind psychologisch einfühlbar; Folgerichtigkeit der Abfolge: Die Aussage entspricht den Naturgesetzen (Ursache und Wirkung); Wirklichkeitsnähe: Die erzählte Geschichte ist aus dem Leben gegriffen; man spürt, so muss es gewesen sein; Konkretheit: Die Schilderung ist anschaulich, die Gegenstände deutlich, die Menschen begreifbar und Nebenumstände ohne Zusammenhang zum Beweisthema (nach Rolf Bender/Armin Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. I, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 2. Auflage (1995), S. 97-98).
Gemessen an diesen Kriterien hält die Überzeugungsbildung des Arbeitsgerichts einer Überprüfung durch die Kammer stand. Soweit die Berufungsbegründung eine Farbigkeit der Aussage des Zeugen T. anzweifelt, da Lebendigkeit und Detailtreue der Schilderung des Zeugen T. im Verlauf seiner Aussage auffällig abgeflacht seien, steht dies der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen T. keineswegs entgegen. Dieser Umstand folgt vielmehr der Aussagesituation. Dabei hat der Zeuge T. zunächst detailreich nach seiner Erinnerung ausgesagt. In der Folge hat er auf Fragen der Prozessbeteiligten geantwortet. Diese Fragen waren gezielt auf das Beweisthema gerichtet. Der Zeuge T. hat direkt auf die Fragen geantwortet. In einer solchen Frage Antwort Situation ist mit der Angabe von farbigen Details, die mit dem Beweisthema und den konkret gestellten Fragen nichts zu tun haben, nicht zu rechnen. Der Umstand, dass der Zeuge T. im Rahmen seiner Zeugenaus-
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sage den konkreten Inhalt der vom Kläger gemachten Äußerungen wiedergegeben hat, wohingegen er zwei Tage nach der Tat den genauen Wortlaut nicht mehr erinnerte, ist im Grundsatz geeignet, Zweifel an der Aussage des Zeugen zu hegen. Dabei ist üblicherweise davon auszugehen, dass die Erinnerung des Zeugen schlechter wird, je länger das Ereignis vergangen ist. Zu berücksichtigen ist vorliegend jedoch, dass der Zeuge von Anbeginn mitgeteilt hat, der Kläger habe im Anschluss an seinen Griff ein bzw. zwei Bemerkungen hierzu gemacht. Insoweit deckt sich die Aussage des Zeugen T. .
Der Umstand, dass der Zeuge B. nicht gesehen hat, dass der Kläger sich zum Zeugen T. vorgebeugt bzw. er für den Griff in die Hoden des Zeugen T. in die Hocke gegangen ist, steht der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen T. nicht entgegen. Ausgehend von der Aussage des Zeugen B. , er habe gesehen, dass der Kläger seine Hand vom Körper des Zeugen T. weggezogen hat und sich die Hand des Klägers dabei ca. 30 cm vom Körper des Zeugen T. entfernt befunden hat, lässt nicht zwingend den Schluss zu, dass der Kläger sich nicht zuvor zum Zeugen T. vorgebeugt oder er sich zuvor hingehockt hat. Ausgehend von der Aussage des Zeugen B. ist vielmehr denklogisch auch der Schluss möglich, dass der Zeuge B. erst dann das Geschehen gesehen hat, als sich der Kläger bereits wieder aufgerichtet hatte.
Im Ergebnis vermag die Kammer daher auch unter Beachtung der Berufungsbegründung nicht zu erkennen, dass die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts rechtsfehlerhaft erfolgte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz eine von allen Zweifeln freie Überzeugung nicht voraussetzt. Vielmehr kommt es auf die eigene Überzeugung des entscheidenden Richters an, auch wenn andere zweifeln oder eine andere Auffassung erlangt haben würden. Der Richter darf und muss sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH 17. Februar 70 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 = NJW 1970, 946; LAG Rheinland-Pfalz 10. November 2014 - 3 Sa 520/13).
c) Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Zugrundelegung der Stellungnahmen des Diplom-Psychologen S. und der „ärztlichen Stellungnahme“ des Allgemeinmediziners Dr. Th. . Bei beiden Stellungnahmen handelt es sich
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um Parteivortrag des Klägers. Bei der Stellungnahme des Diplom-Psychologen handelt es sich insbesondere nicht im Hinblick auf die Aussage des Zeugen T. um eine aussagepsychologische Begutachtung. Dies scheidet schon deshalb aus, da der Psychologe gar keine Befragung des Zeugen T. vorgenommen hat. Auch im Hinblick auf Einlassungen des Klägers kann nicht von einer aussagepsychologischen Begutachtung ausgegangen werden. Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist - wie sich bereits aus dem Begriff ergibt - nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen. Das methodische Grundprinzip besteht dabei darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist (BGH 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 -, BGHSt 45, 164-182, Rn. 14). Bei der aussagepsychologischen Begutachtung ist daher zunächst anzunehmen, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt. Die Bildung relevanter Hypothesen ist daher von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar (vgl. Deckers NJW 1999, 1365, 1370). Beispielsweise hängt die Auswahl der für die Begutachtung in Frage kommenden Test- und Untersuchungsverfahren davon ab, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage in Betracht zu ziehen sind. Dazu können neben einer bewussten Falschaussage etwa auto- oder (bewusst) fremdsuggerierte Angaben gehören. Zu berücksichtigen sind allerdings nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistisch erscheinenden Erklärungsmöglichkeiten (BGH 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 -, BGHSt 45, 164-182, Rn. 14). Die Stellungnahme des Diplom-Psychologen S. basiert im Ergebnis allein auf der Annahme, dass ein fester Griff in die männlichen Hoden in der Regel eine intensive Schmerzempfindung und damit einen Reflex auslöst. Dies deckt sich
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mit der Aussage des Hausarztes, wonach üblicherweise ein Schmerzausruf zu erwarten gewesen wäre. Allein der Umstand, dass der Zeuge T. nicht bekundet hat, aufgeschrien oder eine Abwehrbewegung gemacht zu haben, schließt jedoch denklogisch nicht aus, dass der Kläger ihm tatsächlich schmerzhaft in die Hoden gegriffen hat. Beide Ärzte sagen nämlich nicht aus, dass eine solche Reaktion zwingend bei jedem Mann erfolgt. Soweit die Ärzte darauf verweisen, ein Griff in die Hoden des Zeugen T. hätte von Seiten des Klägers eine „extreme Körperbeugung“ erfordert, ist dies für die Kammer nicht nachvollziehbar. Für einen solchen Griff reicht ein Vorbeugen bzw. ein leichtes Hocken aus. Die Formulierungen sowohl des Diplom-Psychologen als auch des Hausarztes (z.B. „extreme Körperhaltung“, „derbe Arbeits- und Unterhose“) vermitteln auf die Kammer vielmehr den Eindruck einer wohlwollenden Stellungnahme zu Gunsten des Klägers, ohne dass diesen Stellungnahmen im Hinblick auf die Profession der Äußernden besondere Bedeutung beigemessen werden könnte.
Gemäß § 286 Abs. 1 ZPO hat daher das Arbeitsgericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung rechtsfehlerfrei entschieden, dass der Kläger dem Zeugen T. schmerzhaft in die Hoden gegriffen und danach sinngemäß geäußert hat, dass der Kläger „dicke Eier“ habe.
II. Die Berufung des Klägers ist jedoch deshalb begründet, weil das vom Arbeitsgericht festgestellte Verhalten des Klägers im Rahmen der nach § 626 Abs.1 BGB gebotenen Interessenabwägung unter Beachtung der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls im Ergebnis als unverhältnismäßig anzusehen ist.
1. Das Verhalten des Klägers war an sich geeignet, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung nach § 626 Abs.1 BGB darzustellen.
1.1 Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Das Gesetz kennt folglich keine „absoluten“ Kündigungsgründe. Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sach-
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verhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (st. Rspr., BAG 26. März 2009 - 2 AZR 953/07 - Rn. 21 mwN, AP BGB § 626 Nr. 220; 27. April 2006 - 2 AZR 386/05 - Rn. 19, BAGE 118, 104; 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 -, BAGE 134, 349-367).
1.2 Eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs.4 AGG stellt nach § 7 Abs.3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar, und ist "an sich" als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB geeignet.
1.3 Das Verhalten des Klägers stellt eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs.4 AGG dar.
1.3.1 Eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs.4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein etwa von Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. So stellt beispielsweise das Berühren einer weiblichen Brust durch einen Mann regelmäßig einen sexuell bestimmten Eingriff in die körperliche Intimsphäre der Frau dar (vgl. BAG 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 -, juris). Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 -, ju-ris; 9. Juni 2011 - 2 AZR 323/10 - Rn. 18 mwN).
1.3.2 Eine sexuell bestimmte körperliche Berührung ist regelmäßig objektiv unerwünscht. Dies wiederum ist für die handelnde Person regelmäßig auch erkennbar (vgl. BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 323/10 - Rn. 22; 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 -, juris). Unmaßgeblich ist dabei, wie der Handelnde selbst sein Verhalten zunächst eingeschätzt und empfunden haben mag und verstanden wissen wollte (vgl. BAG 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 -, juris; 9. Juni 2011 - 2 AZR 323/10 - Rn. 24).
2. Ob eine sexuelle Belästigung im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, ist abhängig von den konkreten Umständen, u.a. von ihrem Umfang und ihrer Intensität zu beurteilen. Auch im Bereich sexueller Belästigung ist regelmäßig eine
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Abmahnung vor Ausspruch einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit erforderlich, es sei denn, bereits ex ante ist erkennbar, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 - m. w. N.; LAG Köln 28. Januar 2015 - 11 Sa 42/14 -, Rn. 24, juris).
3. Nach den besonderen Umständen des Streitfalls hätte vorliegend eine Abmahnung als Reaktion von Seiten der Beklagten ausgereicht.
3.1 Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Auch Unterhaltspflichten und der Familienstand können - je nach Lage des Falls - Bedeutung gewinnen. Sie sind jedenfalls bei der Interessenabwägung nicht generell ausgeschlossen und können berücksichtigt werden (BAG 09. Juni 2011 - 2 AZR 323/10; 16. Dezember 2004 - 2 ABR 7/04 - zu B II 3 b aa der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 191 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 7). Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Im Vergleich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere eine Abmahnung oder eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen (BAG 23. Oktober 2014 - 2 AZR
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865/13 - Rn. 47; 25. Oktober 2012 - 2 AZR 495/11 - Rn. 15 mwN). Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 23. Oktober 2014 - 2 AZR 865/13 - Rn. 47; 25. Oktober 2012 - 2 AZR 495/11 - Rn. 16). Die anzustellende Prognose fällt negativ aus, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden muss, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag in Zukunft erneut und in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen. Ist der Arbeitnehmer wegen gleichartiger Pflichtverletzungen schon einmal abgemahnt worden und verletzt er seine vertraglichen Pflichten gleichwohl erneut, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch weiterhin zu Vertragsstörungen kommen (BAG 09. Juni 2011 - 2 AZR 323/10; 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06 - Rn. 38, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82).
3.2 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird zudem durch § 12 Abs.3 AGG konkretisiert. Danach hat der Arbeitgeber bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs.1 AGG, zu denen auch sexuelle Belästigungen iSv. § 3 Abs.4 AGG gehören, die geeigneten, erforderlichen und angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen - wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung - zu ergreifen. Welche Maßnahmen er als verhältnismäßig ansehen darf, hängt von den konkreten Umständen ab. § 12 Abs.3 AGG schränkt das Auswahlermessen allerdings insoweit ein, als der Arbeitgeber die Benachteiligung zu „unterbinden“ hat. Geeignet iSd. Verhältnismäßigkeit sind daher nur solche Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen darf, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen, dh. eine Wiederholung ausschließen (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 651/13; 9. Juni 2011 - 2 AZR 323/10 - Rn. 28 mwN).
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3.3 Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze war vorliegend im Hinblick auf die Wirksamkeit einer Abmahnung von einer positiven Prognose auszugehen.
3.3.1 Dabei war insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger zum Tatzeitpunkt bereits 23 Jahre beanstandungsfrei für die Beklagte gearbeitet hatte. Auch wenn die Beklagte versucht den Eindruck zu vermitteln, dass sie mit den Verhaltensweisen des Klägers in der Vergangenheit nicht immer einverstanden war und insbesondere der Umgang des Klägers mit Kollegen mitunter problematisch gewesen sein soll, ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass die Beklagte den Kläger abgemahnt hat. Es ist daher davon auszugehen, dass sich der Kläger im Laufe der 23 Jahre seiner Betriebszugehörigkeit keine schwerwiegenden Verfehlungen hat zu Schulden kommen lassen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger gegenüber anderen Mitarbeitern in irgendeiner Weise sexuell belästigend aufgefallen ist. Es ist daher davon auszugehen, dass der Ausspruch einer Abmahnung, durch die der Kläger im Hinblick auf sein Fehlverhalten und auf die arbeitsrechtlichen Folgen einer erneuten Verfehlung hingewiesen worden wäre, dazu angehalten hätte, zukünftig ein solches Verhalten zu unterlassen.
3.3.2 Besonders maßgeblich war bei dieser Beurteilung für die Kammer vorliegend die Annahme, dass das Verhalten des Klägers zwar objektiv den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt, der Kläger jedoch subjektiv nicht in dem Bewusstsein handelte, hierdurch eine sexuelle Belästigung zu begehen. (Hierin unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem Beispielsfall, dass ein (heterosexueller) Mann einer Frau an die Brust fasst.) Dabei ist zu differenzieren zwischen der Feststellung einer sexuellen Belästigung im Sinne des § 3 Abs.4 AGG auf der einen Seite und der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des § 626 Abs.1 BGB auf der anderen Seite. Für die Feststellung einer sexuellen Belästigung im Sinne des § 3 Abs.4 AGG ist unmaßgeblich, wie der Handelnde selbst sein Verhalten zunächst eingeschätzt und empfunden haben mag und verstanden wissen wollte (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 651/13 -, juris; 9. Juni 2011 - 2 AZR 323/10 - Rn. 24). Davon zu unterscheiden ist, welcher Grad der Vorwerfbarkeit einem solchen Verhalten im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 626 Abs.1 BGB zukommt. Gleiches gilt im Rahmen der Prognose, ob eine Abmahnung geeignet ist, einen Arbeitnehmer zukünftig zu vertragstreuem Verhalten anzuhalten. Für die Kammer macht es kündigungsrechtlich einen signifikanten Unterschied, ob der Handelnde einer objektiv sexuellen Belästigung mit sexuellen Motiven handelte oder ob ihm zum Zeitpunkt der Handlung nicht bewusst war, dass sein Verhalten objektiv als sexuelle Be-
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lästigung anzusehen ist. Handelt ein Arbeitnehmer aus sexuellen Motiven, so ist ihm regelmäßig bewusst, dass sein Verhalten eine sexuelle Belästigung darstellt. Damit ist ihm auch die Schwere seines Verhaltens zum Zeitpunkt des Handelns unmittelbar bewusst. Dementsprechend wirkt auch die Vorwerfbarkeit eines solchen Verhaltens im Rahmen der Interessenabwägung entsprechend schwer. In einem solchen Fall erscheint es der Kammer zweifelhaft, ob eine Abmahnung aus der Sicht des Arbeitgebers mit genügender Wahrscheinlichkeit den Arbeitnehmer zukünftig zu vertragstreuem Verhalten anhalten kann. Handelt ein Arbeitnehmer demgegenüber nicht in dem Bewusstsein, dass sein Handeln objektiv eine sexuelle Belästigung darstellt, da er selbst sich dieser Tragweite nicht bewusst ist, weil er subjektiv nicht aus sexuellen Motiven handelte, bietet nach Ansicht der Kammer eine Abmahnung die hinreichende Gewähr dafür, dem Arbeitnehmer die Dimension und Schwere seines Fehlverhaltens zu verdeutlichen, so dass dieser in Zukunft, nunmehr in Kenntnis der Bedeutung seines Verhaltens, dieses Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit unterlassen wird.
Vorliegend hat die Kammer den Eindruck gewonnen, dass der Kläger den Griff in die Hoden des Zeugen T. ohne sexuelle Motive beging. Für eine solche sexuelle Motivation fehlen aufgrund des Vorbringens der Parteien jegliche Anhaltspunkte. Die Kammer geht ferner davon aus, dass der Kläger nicht mit direktem Vorsatz handelte, den Zeugen T. sexuell zu belästigen oder diesen durch sein Verhalten herabzuwürdigen. Die Kammer geht vielmehr davon aus, dass es sich bei dem Handeln des Klägers um ein situatives unreflektiertes Verhalten gehandelt hat. Dem Kläger war nicht bewusst, dass es sich bei seinem Handeln nicht nur um einen „dummen Scherz“ handelte, sondern er damit den objektiven Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllte. Hierfür sprechen neben dem Fehlen sexueller Motivation auch die nachfolgenden Äußerungen des Klägers. Hätte der Kläger die Absicht verfolgt, mit seinem Handeln den Zeugen T. im Hinblick auf dessen primären Geschlechtsorgane herabzuwürdigen, so hätte es nahe gelegen, dass der Kläger hierüber abfällige Bemerkungen gemacht hätte. Die vom Zeugen T. geschilderte Äußerung „Du hast aber dicke Eier“ stellt in diesem Kontext aus der Sicht der Kammer jedoch keine solche herabwürdigende Äußerung dar. Dabei geht die Kammer davon aus, dass in einem solchen Kontext die Feststellung einer auffallend großen Größe der primären Geschlechtsorgane jedenfalls nicht negativ gemeint ist. Auch die weitere Äußerung des Klägers, das sinngemäße Angebot, den Griff in die Hoden auch bei einem anderen Kollegen zu verüben, belegt aus der Sicht der Kammer, dass es
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sich bei diesem Verhalten des Klägers nicht um einen gezielten sexuellen Angriff gegen den Zeugen T. handelte, sondern vielmehr um ein unreflektiertes situatives Verhalten des Klägers. Das Fehlen eines hinreichenden Problembewusstseins des Klägers, dass sein Verhalten den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllt, lässt es aus der Sicht der Kammer gerechtfertigt erscheinen davon auszugehen, dass eine Abmahnung ein solches Problembewusstsein hätte schaffen und dadurch mit der hierfür erforderlichen Wahrscheinlichkeit den Kläger zukünftig zu vertragstreuem Verhalten hätte anhalten können. Beruht nämlich die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (Schlachter NZA 2005, 433, 436; BAG 23. Juni 2009 - 2 AZR 283/08 - Rn. 14 mwN, AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 5 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 75).
3.3.3 Aufgrund der geschilderten Konstellation musste der Kläger trotz der Schwere seines Fehlverhaltens auch nicht damit rechnen, dass der Beklagten aufgrund seines Verhaltens eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (vgl. BAG 23. Juni 2009 - 2 AZR 103/08 - Rn. 33, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 59 = EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 17; 19. April 2007 - 2 AZR 180/06 - Rn. 48 mwN, AP BGB § 174 Nr. 20 = EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 7;10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 -, BAGE 134, 349-367). Da der Kläger sich aus der Sicht der Kammer, wie bereits oben dargelegt, zum Zeitpunkt seines Handelns über die Tragweite und Schwere seines Verhaltens nicht bewusst war, war für ihn auch nicht offensichtlich, dass aufgrund seines Verhaltens für den Arbeitgeber eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar und daher eine Abmahnung ausgeschlossen ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass im Betrieb der Beklagten seit 2005 die Betriebsvereinbarung zur respektvollen Zusammenarbeit in Kraft ist. Diese Betriebsvereinbarung belegt zwar, dass sich die Betriebsparteien der Problematik und Schwere diskriminierenden Verhaltens im Betrieb bewusst waren und sind. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der
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Inhalt dieser Betriebsvereinbarung dem Kläger jedoch seitens der Beklagten konkret bekannt gemacht wurde und die Beklagte dem Kläger die Diskriminierungsproblematik und insbesondere rechtliche Konsequenzen bei diskriminierenden Verhalten nachhaltig deutlich gemacht hat, bestehen angesichts des Parteivortrags nicht. Insoweit fehlt es an einem hinreichend konkreten Vortrag, wann welche konkreten Hinweise auch unter Bezugnahme auf die Betriebsvereinbarung gegenüber dem Kläger gemacht wurden. Allein das Bestehen der Betriebsvereinbarung schließt daher für die Kammer nicht aus, dass der Kläger sich bei seinem Handeln in Ermangelung sexueller Motivation gerade nicht darüber bewusst war, dass sein Verhalten den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt und von der Beklagten zwingend mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses geahndet wird.
3.3.4 Der Ausspruch einer Kündigung erweist sich daher für den vorliegenden Einzelfall im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung der Parteien im Ergebnis insbesondere unter Beachtung der erheblichen Betriebszugehörigkeitszeit des Klägers als unverhältnismäßig. Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 -, BAGE 134, 349367). Für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung kann es von erheblicher Bedeutung sein, ob der Arbeitnehmer bereits geraume Zeit in einer Vertrauensstellung beschäftigt war, ohne vergleichbare Pflichtverletzungen begangen zu haben (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09; 13. Dezember 1984 - 2 AZR 454/83 - zu III 3 a der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 81 = EzA BGB § 626 nF Nr. 94). Eine für lange Jahre ungestörte Vertrauensbeziehung zweier Vertragspartner wird nicht notwendig schon durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört. Je länger eine Vertragsbeziehung ungestört bestanden hat, desto eher kann die Prognose berechtigt sein, dass der dadurch erarbeitete Vorrat an Vertrauen durch einen erstmaligen Vorfall nicht vollständig aufgezehrt wird. Dabei kommt es nicht auf die subjektive Befindlichkeit und Einschätzung des Arbeitgebers oder bestimmter für ihn handelnder Personen an. Entscheidend ist ein objektiver Maßstab. Maßgeblich ist nicht, ob der Arbeitgeber hinreichendes Vertrauen in den Arbeitnehmer tatsächlich noch hat. Maßgeblich ist, ob er es aus der Sicht eines objek-
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tiven Betrachters haben müsste. Im Arbeitsverhältnis geht es nicht um ein umfassendes wechselseitiges Vertrauen in die moralischen Qualitäten der je anderen Vertragspartei. Es geht allein um die von einem objektiven Standpunkt aus zu beantwortende Frage, ob mit einer korrekten Erfüllung der Vertragspflichten zu rechnen ist (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 -, BAGE 134, 349-367, Rn. 47).
3.3.5 Diese Frage ist vorliegend unter Beachtung der genannten Besonderheiten des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen der Parteien zu bejahen. Dabei wiegt das Fehlverhalten des Klägers schwer, da es objektiv den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt. Der Beklagten ist auch darin zuzustimmen, dass ein solches Verhalten nicht tolerabel ist. Hieraus folgt jedoch nicht zwingend, dass der Ausspruch einer Beendigungskündigung die geeignete und angemessene Reaktion des Arbeitgebers auf ein solches Fehlverhalten darstellt. Auch aus der Betriebsvereinbarung zur respektvollen Zusammenarbeit ergeben sich abgestufte Sanktionsmöglichkeiten. Diese stehen im Ergebnis mit den oben dargelegten Grundsätzen zum Vorrang einer Abmahnung in Einklang. Dabei wäre vorliegend durchaus auch eine Kombination unterschiedlicher Sanktionsmöglichkeiten wie z.B. Abmahnung und Versetzung denkbar gewesen. Entscheidend ist aus Sicht der Kammer im Ergebnis, dass der Kläger durch 23 Jahre beanstandungsfreie Tätigkeit für die Beklagte ein solch hohes Maß an Vertrauen erworben hat, dass dies durch sein einmaliges Fehlverhalten nicht in Gänze aufgebraucht ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Fehlverhalten des Klägers generell als tolerabel angesehen werden kann. Die Kammer hat nach den dargelegten Grundsätzen nicht abstrakt und generell darüber zu entscheiden, ob im Falle einer sexuellen Belästigung dem Arbeitgeber eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses generell abstrakt unzumutbar oder zumutbar ist. Es ist vielmehr eine Einzelfallentscheidung unter Abwägung der Besonderheiten des Einzelfalles und den Interessen der Parteien zu treffen. Diese Entscheidung ist wie dargelegt nach objektiven Maßstäben vorzunehmen. Dies bedeutet im Ergebnis jedoch nicht, dass diese Beurteilung für sämtliche Arbeitnehmer in einem Betrieb gleich ausfallen müsste. Es ist vielmehr der jeweilige Einzelfall zu betrachten. Wie dargelegt kommt im Rahmen der Betrachtung neben dem erdienten Vertrauen durch eine lange beanstandungsfreie Betriebszugehörigkeit auch die Einsichtsfähigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers eine erhebliche Bedeutung zu. Dies führt vorliegend zu einer Abwägung der Kammer dahingehend, dass die vom Kläger begangene sexuelle Belästigung von diesem nicht aus sexuellen Motiven begangen wurde und nach objektivem Maßstab der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsver-
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hältnisses nicht unzumutbar ist, da der Ausspruch einer Abmahnung ausreichend gewesen wäre, weil mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass der Kläger sich infolge einer solchen Abmahnung zukünftig vertragstreu verhalten hätte.
3.3.6 Diese Abwägung ändert sich auch nicht dadurch, dass das Verhalten des Klägers nicht nur eine sexuelle Belästigung darstellt, sondern auch den Tatbestand der Körperverletzung erfüllte, da der Kläger dem Zeugen T. durch seinen Griff spürbare Schmerzen zugefügt hat. Auch unter diesem Gesichtspunkt war das Verhalten des Klägers geeignet, an sich einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung nach § 626 Abs.1 BGB darzustellen. Anders als bei der Beurteilung der sexuellen Belästigung muss im Hinblick auf das Zufügen von Schmerzen auch davon ausgegangen werden, dass sich der Kläger darüber bewusst war, das sein Griff in die Hoden des Zeugen T. bei diesem Schmerzen verursachen kann. Das Ausmaß der verursachten Körperverletzung erweist sich jedoch im Rahmen der Interessenabwägung im Ergebnis als nicht derart erheblich, dass insbesondere in Anbetracht des erdienten Vertrauens des Klägers aufgrund der langen Betriebszugehörigkeit vor diesem Hintergrund die Kündigung des Arbeitsverhältnisses verhältnismäßig erscheint. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die ärztliche Untersuchung zwei Tage nach dem Vorfall keinen Befund einer noch fortdauernden körperlichen Beeinträchtigung erbrachte.
Trotz der Schwere seines Fehlverhaltens erweist sich daher im Ergebnis die streitgegenständliche fristlose Kündigung im Rahmen der Interessenabwägung als unverhältnismäßig.
III. Die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.11.2014 ist rechtsunwirksam, insbesondere nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial nicht gerechtfertigt, da nach den obigen Ausführungen der Ausspruch einer Abmahnung als verhältnismäßige Reaktion auf das Fehlverhalten des Klägers ausreichend gewesen wäre.
IV. Weil die streitgegenständlichen Kündigungen unwirksam sind, ist der Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers nach der Rechtsprechung des Großen Senats des BAG (BAG GS 1/84, 27. Februar 1985, NZA 1985, 702 - 709) gerechtfertigt.
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
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VI. Gegen dieses Urteil war die Revision nicht zuzulassen, weil kein Grund hierfür im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG gegeben war. Wegen der Möglichkeit, Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil zu erheben, wird auf § 72 a ArbGG hingewiesen.
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