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LAG Köln, Beschluss vom 26.01.2012, 9 Ta 272/11
Schlagworte: | Diskriminierung: Behinderung | |
Gericht: | Landesarbeitsgericht Köln | |
Aktenzeichen: | 9 Ta 272/11 | |
Typ: | Beschluss | |
Entscheidungsdatum: | 26.01.2012 | |
Leitsätze: | 1. Das Arbeitsgericht hat vor der Entscheidung über das PKH-Gesuch den Gegner nach § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO anzuhören, wenn die Erfolgsaussicht der Klage von der Auslegung eines Begriffs (hier: Kommunikationsstärke) abhängt, den der Gegner als Grund für die Ablehnung der Bewerbung des behinderten Menschen, der Entschädigung und Schmerzensgeld verlangt, verwandt hat. 2. Wird die Bewerbung eines Menschen mit Sprechstörung wegen fehlender "Kommunikationsstärke" und "großer Kommunikationsprobleme" abgelehnt, so kann die Vermutung gerechtfertigt sein, es liege eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung vor. Der einstellende Arbeitgeber hat diesen Vermutungstatbestand nach § 22 AGG zu entkräften. 3. Sofern der Arbeitgeber nachweist, dass der Arbeitsplatz auch bei benachteiligungsfreier Auswahl mit einem anderen besseren Bewerber besetzt worden wäre, und im Zusammenhang mit der Ablehnung auch nicht eine besonders schwere Persönlichkeitsverletzung erfolgt ist, kann der behinderte Mensch nur eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG von maximal 3 Monatsgehältern verlangen. |
|
Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Bonn, Beschluss vom 20.07.2011, 5 Ca 1722/11 | |
9 Ta 272/11
5 Ca 17227/11
Arbeitsgericht Bonn
LANDESARBEITSGERICHT KÖLN
BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
- Kläger und Beschwerdeführer -
Prozessbevollmächtigte:
g e g e n
- Beklagte -
Prozessbevollmächtigte:
hat die 9. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln am 26.01.2012 – ohne vorherige mündliche Verhandlung – durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht S als Vorsitzenden
b e s c h l o s s e n :
Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Bonn vom 20. Juli 2011 – 5 Ca 1722/11 EU – abgeändert:
1. Dem Kläger wird Prozesskostenbeihilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt J aus K für die Klage auf Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 3 Monatsgehältern nach der Entgeltgruppe 9 TVöD bewilligt.
2. Im Übrigen wird der Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen.
Gründe
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I. Der Kläger hat Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Entschädigung und Schmerzensgeld wegen einer Benachteiligung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund seiner Sprechbehinderung beantragt.
Der Kläger, geboren am . 1960, hat einen Bescheid des Versorgungsamtes T vom 7. Mai 1979 vorgelegt, worin eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit mit einem Grad von 30 „wegen Sprechstörungen bei psycho-vegetativer Labilität“ anerkannt worden ist.
Er bewarb sich mit Schreiben vom 8. Februar 2011 auf die von der Beklagten ausgeschriebene Stelle eines Arbeitsvermittlers, der vollzeitig befristet bis zum 31. Dezember 2015 mit einer Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TVöD beschäftigt werden sollte. Nach einem Bewerbungsgespräch am 23. Februar 2011 teilte die Beklagte dem Kläger mit Mailschreiben vom gleichen Tag mit, „andere Bewerber/innen hätten sie mehr überzeugt, insbesondere seien diese besser über ihr Jobcenter informiert und kommunikationsstärker“.
Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 18. April 2011 von der Beklagten vergebens Schadensersatz und Entschädigung wegen Diskriminierung in Höhe von EUR 30.298,92 zum Ausgleich immaterieller Schäden und in Höhe von EUR 2.524,91 zum Ausgleich materieller Schäden (Lohnausfall) sowie Ersatz von Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 2.493,05 gefordert hatte, verlangt er mit Klage vom 13. Juli 2011 von der Beklagten Zahlung von EUR 30.298,92 als Schmerzensgeld, von jeweils EUR 2.524,91 als Gehälter für die Monate März 2011 bis einschließlich Juni 2011 abzüglich erhaltenem Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich EUR 793,02 sowie Ersatz der außergerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 2.493,05 und der gerichtlich entstehenden Kosten der Rechtsverfolgung einschließlich Anwaltshonoraren. Er
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behauptet, er habe seit rund 45 Jahren eine Behinderung im Redefluss (Stottern).
Das Arbeitsgericht Bonn hat den Antrag auf Prozesskostenbewilligung durch Beschluss vom 20. Juli 2011 mangels hinreichender Aussicht für die Klage zurückgewiesen mit der Begründung, soweit die Beklagte andere Bewerber als kommunikationsstärker bezeichnet habe, stelle dies eine bei der Ablehnung von Bewerbern gebräuchliche und übliche Floskel dar. Kommunikationsstärke habe nichts mit einer Sprechbehinderung zu tun. Es gehe dabei nicht um Redefluss und Aussprache, sondern insbesondere um Wortwahl und Satzbau.
Der dagegen fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde hat das Arbeitsgericht Bonn nicht abgeholfen, sondern sie dem Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Vorbringen des Klägers in seiner Beschwerdeschrift darüber, wie der Begriff „Kommunikationsstärke“ zu verstehen sei und inwiefern die Beklagte den durch die Behinderung eingeschränkten Redefluss als Grund für die Ablehnung seiner Bewerbung genommen habe, führe zu keiner anderen Beurteilung der fehlenden Erfolgsaussicht. Selbst die Voraussetzungen einer Beiordnung nach § 11 a ArbGG lägen nicht vor, da die Klage aus den Gründen des vorherigen Beschlusses vom 20. Juli 2011 sich als offensichtlich mutwillig darstelle.
Der Kläger trägt vor, während einem anderen Bewerber nur „Defizite im Kommunikationsverhalten“ bescheinigt worden seien, habe die Beklagte ihm fehlende „Kommunikationsstärke“ als Ablehnungsgrund mitgeteilt. Damit habe sie die Überzeugungskraft gemeint, für die der Redefluss eine wichtige Bedeutung habe. In dem Vorstellungsgespräch habe er die zum Nachweis der Kenntnisse über Jobcenter gestellte Frage über Träger der Leistungen nach dem SGB II zutreffend beantwortet. Auf die Frage, was er als Bundesarbeitsminister ändern werde, habe er geantwortet, er verzichte auf eine Äußerung, weil er die Parteizugehörigkeit der Anwesenden nicht kenne. Ihm sei
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in dem Vorstellungsgespräch ausdrücklich von einem Vertreter der Beklagten, und zwar dem Teamkoordinator Personal Herrn S, bescheinigt worden, dass er fachlich geeignet sei, und bei einer Anstellung in die Entgeltgruppe 9 Stufe 2 TVöD eingruppiert werde. Da er im Zeitraum August 2009 bis Dezember 2009 Menschen, die Arbeitslosengeld bezogen hätten, betreut und beraten habe, verfüge er über die vorausgesetzte Fähigkeit, mit Kunden zu kommunizieren und sich auch in ihre Situation einzufühlen. Er habe auch bei den Fallbeispielen Lösungsvorschläge genannt.
Das Beschwerdegericht hat die Beklagte im Prozesskostenhilfe-Verfahren beteiligt. Sie verteidigt die erstinstanzliche Ablehnung der Prozesskostenhilfe und einer Beiordnung nach § 11 a ArbGG. Sie bestreitet, dass der Kläger sprechbehindert ist und dass die Anerkennung durch das Versorgungsamt T noch heute Gültigkeit hat. Jedenfalls sei ihren Vertretern bei dem mit dem Kläger geführten Einstellungsgespräch keine Störung des Redeflusses aufgefallen. Erstmals habe sie durch das anwaltliche Schreiben vom 18. April 2011 von der behaupteten Sprechbehinderung erfahren. Gegen eine Sprechbehinderung des Klägers spreche, dass er gemäß seinem Lebenslauf seit dem Januar 2010 als Dozent bei verschiedenen Bildungsträgern gearbeitet habe. Sie habe mit dem Begriff „Kommunikationsstärke“ die Fähigkeit gemeint, gut zuhören, sich in das Gegenüber einfinden, die richtigen Worte wählen und überzeugen zu können. Es gehe ihr darum, leicht guten Kontakt zu Dritten herstellen und schnell ein Vertrauensverhältnis aufbauen zu können, wobei nicht nur die verbalen Fähigkeiten, sondern auch Gesten und Mimik entscheidend seien. Dagegen spiele der Redefluss keine Rolle. Sie habe auch einem weiteren abgelehnten Bewerber fehlende Kommunikationsstärke attestiert, ohne dass bei diesem eine Sprechbehinderung vorgelegen habe. Sie verweist auf die anonymisierte Einzelbewertung der Bewerber, die sich am 23. Februar 2011 bei ihr vorgestellt haben (Bl. 98 d. A.). Darin heißt es zur Begründung der Nichteignung des Klägers: „große Diskrepanz zwischen Unterlagen und Auftreten, große Kommunikationsprobleme, schlechte Vorbereitung“. Zur Erläuterung trägt sie
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vor, der Kläger habe im Gegensatz zu anderen Bewerbern schon bei der persönlichen Vorstellung nicht überzeugen können. Ebenfalls habe er nicht dargestellt, dass er souverän mit Stresssituationen und dem beruflichen Alltag umgehen können. Kenntnisse über die Arbeit im Jobcenter, insbesondere das Jobcenter EU-aktiv, hätten ihm gefehlt. Die dadurch aufgezeigte mangelnde Vorbereitung auf das Vorstellungsgespräch habe sie dahin bewerten dürfen, dass ihm Leistungsbereitschaft und Motivation fehlten. Kommunikationsstärke in der von ihr aufgezeigten Bedeutung sei unerlässlich für die Aufgabe des Arbeitsvermittlers, Kunden zu beraten und zu betreuen. Über Vorerfahrungen habe der Kläger auch nicht verfügt. Bei der Lösung von zwei Fallbeispielen (Zuweisung in Arbeitsgelegenheit und Umgang mit alkoholisiertem Kunden) habe der Kläger ebenso versagt wie bei der Frage, welche gesetzlichen Regelungen er als Bundesarbeitsminister ändern werde. Dagegen sei der besten Bewerberin Folgendes bescheinigt worden: „kommunikationsstark, beratungskompetent, sehr gute Vorerfahrungen, kein Einarbeitungsbedarf.“
Wegen des weiteren Vorbringens wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Die zulässige sofortige Beschwerde ist nur im erkannten Umfang begründet.
Hinreichende Erfolgsaussicht besteht nur, soweit der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen bedürftige Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangt, wobei diese Entschädigung im vorliegenden Fall 3 Monatsgehälter nicht übersteigen darf (§ 15 Abs. 2 S. 2 AGG).
1. Hinreichende Erfolgsaussicht für Rechtsverfolgung oder – verteidigung liegt vor, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht mindestens von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Zöller-Geimer, ZPO, 29. Auflage,
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§ 114 Rdn. 19). Diese Erfolgsaussicht muss bei Entscheidungsreife des Antrags vorliegen. Entscheidungsreif ist das PKH-Begehren, wenn die Partei es schlüssig begründet, die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hat und wenn der Gegner Gelegenheit gehabt hat, sich innerhalb angemessener Frist zum PKH-Gesuch zu äußern (vgl. Zöller-Geimer, a.a.O., § 119 Rdn. 44). Gegenstand der Anhörung des Gegners nach § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO sind die Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung bzw. – verteidigung und die Frage, ob diese mutwillig ist (vgl. Zöller-Geimer, a.a.O., § 118 Rdn. 2).
2. Das Arbeitsgericht hat diese Grundsätze nicht beachtet, als es ohne vorherige Anhörung der Beklagten über das PKH-Gesuch des Klägers entschied und dabei den von der Beklagten in der Ablehnung verwandten Begriff „Kommunikationsstärke“ auslegte, ohne sich zuvor zu vergewissern, dass diese Begriffsbestimmung auch tatsächlich dem Parteiwillen der Beklagten entspricht. Nicht nachvollziehbar ist, wie es mit der in dem Beschluss vom 20. Juli 2011 gegebenen Begründung für die fehlende hinreichende Erfolgsaussicht in dem späteren Nichtabhilfebeschluss vom 18. August 2011 sogar generell zu dem Schluss kommen konnte, die Klage sei offensichtlich mutwillig, und damit auch eine Beiordnung nach § 11 a ArbGG ablehnte.
3. Nach dem Vorbringen des Klägers hat die Beklagte bei der Besetzung der Stelle eines Arbeitsvermittlers im Februar 2011 gegen das Verbot verstoßen, schwerbehinderte Beschäftigte wegen ihrer Behinderung bei der Bewerbung um eine Stelle zu benachteiligen.
a. Das AGG findet Anwendung, da die Bewerberauswahl nach dem Inkrafttreten des AGG am 18. August 2006 stattfand. Die Parteien fallen auch unter den persönlichen Anwendungsbereich des AGG. Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Arbeitgeber Beschäftigte nicht wegen einer Behinderung oder wegen eines anderen in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligen. Auch Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis gelten als
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Beschäftigte, § 6 Abs. 1 S. 1 AGG. Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Bewerbung des Klägers hat auch die Beklagte nicht vorgetragen. Die Beklagte ist Arbeitgeberin nach § 6 Abs. 2 S. 1 AGG, da sie als juristische Person um Bewerbungen gebeten hat und somit Personen nach § 6 Abs. 1 S. 2 AGG beschäftigt. Der Kläger hat auch seinen Entschädigungsanspruch innerhalb von zwei Monaten, beginnend mit dem Zugang der Ablehnung, durch das Schreiben vom 18. April 2011 geltend gemacht (§ 15 Abs. 4 AGG). Die am 15. Juli 2011 beim Arbeitsgericht eingegangene und am 22. Juli 2011 der Beklagten zugestellte Klage wahrte die Frist des § 61 b Abs. 1 ArbGG, da sie innerhalb von drei Monaten nach schriftlicher Geltendmachung des Anspruchs erhoben worden ist, § 253 Abs. 1 ZPO.
b. Nach § 3 Abs. 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung dann vor, wenn ein Beschäftigter wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, also auch wegen einer Behinderung, eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation. Da die weniger günstige Behandlung wegen einer Behinderung erfolgen muss, ist ein Kausalzusammenhang erforderlich. Dieser ist bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung an die Behinderung anknüpft oder durch sie motiviert ist. Ausreichend ist, dass die Behinderung Bestandteil eines Motivbündels ist, das die Entscheidung beeinflusst hat. Auf ein schuldhaftes Handeln oder gar eine Benachteiligungsabsicht kommt es nicht an.
Hinsichtlich der Kausalität zwischen Nachteil und dem verpönten Merkmal ist in § 22 AGG eine Beweislastregelung getroffen, die sich auch auf die Darlegungslast auswirkt. Der Beschäftigte genügt danach seiner Darlegungslast, wenn er Indizien vorträgt, die seine Benachteiligung wegen eines verbotenen Merkmals vermuten lassen. Dies ist der Fall, wenn die vorgetragenen Tatsachen aus objektiver Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass die Benachteiligung wegen dieses Merkmals erfolgt ist. Liegt eine Vermutung für die Benachteiligung vor, trägt nach § 22 AGG die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß
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gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (vgl. BAG, Urteil vom 27. Januar 2011 – 8 AZR 580/09 - ).
Dabei ist zu beachten, dass seit Inkrafttreten des AGG zum 18. August 2006 einfach behinderte Menschen sich nicht im Sinne von Vermutungstatsachen auf Verstöße des Arbeitgebers im Bewerbungsverfahren gegen die §§ 81 ff. SGB IX berufen können. Da aber der Begriff Behinderung im AGG weiterreichend ist als der Behindertenbegriff im SGB IX, schützt dass AGG gleichwohl auch die einfach-behinderten Menschen vor Diskriminierung, also diejenigen, deren Grad der Behinderung unter 50 liegt und die nicht gleichgestellt wurden (vgl. BAG, Urteil vom 27. Januar 2011 – 8 AZR 580/09 - ). Zu dieser Gruppe gehört nach eigenem Vorbringen auch der Kläger.
c. Ausgehend von den vom Kläger vorgetragenen oder unstreitigen Tatsachen, ist der Standpunkt des Klägers vertretbar, es lägen Vermutungstatsachen vor, die seine Benachteiligung wegen seiner Behinderung indizierten.
Die Beklagte hat seine Ablehnung u. a. damit begründet, andere Bewerber seien „kommunikationsstärker“ gewesen. In dem von der Beklagten vorgelegten Bogen zur Bewertung aller Bewerberinnen und Bewerber heißt es sogar „große Kommunikationsprobleme“ hätten vorgelegen, wohingegen die Negativbewertung bei einem anderen Bewerber mit „Defiziten im Kommunikationsverhalten“ begründet wurde. Diese Bewertungen lassen durchaus den Schluss zu, dass eine beim Kläger vorhandene Sprechstörung (Stottern) mit dazu führte, seine Bewerbung abzulehnen. Dass bei einer mündlichen Kommunikation der Redefluss per se keine Rolle spielt, kann nicht ernsthaft vertreten werden (vgl. dazu nur den Film „King‘s Speech“). Bei nachgewiesener Sprechstörung wird die Beklagte diesen Vermutungstatbestand nach § 22 AGG zu entkräften haben, wobei das Arbeitsgericht Bonn ihren Anträgen auf Vernehmung der von ihr benannten Zeugen, die am Bewerbungsgespräch teilgenommen haben, nachzugehen hat.
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Auch wird es dem Kläger Gelegenheit geben müssen, seine Sprechbehinderung zu demonstrieren und sich persönlich zu dem Ablauf des Bewerbungsgesprächs zumindest im Rahmen einer Anhörung nach § 141 ZPO zu äußern.
4. Nach dem derzeitigen Sachstand besteht allerdings hinreichende Erfolgsaussicht nur für einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG, begrenzt auf maximal 3 Monatsgehälter.
a. Nach § 15 Abs. 2 AGG kann der Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen, die bei einer Nichteinstellung 3 Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
Auch dieser Entschädigungsanspruch setzt einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot voraus, d. h. eine weniger günstige Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes als sie eine andere Person in vergleichbarer Situation erfahren hat. Eine vergleichbare Situation setzt voraus, dass der Kläger nicht ausgewählt wurde, obwohl er für die Stelle objektiv geeignet war. Maßgeblich sind die Anforderungen, die der Arbeitgeber an die Stellenbewerber stellen durfte. Die objektive Eignung ist zu trennen von der individuellen fachlichen und persönlichen Qualifikation des Bewerbers, die nur als Kriterium der Auswahlentscheidung auf der Ebene der Kausalität zwischen Benachteiligung und verbotenem Merkmal eine Rolle spielt. Bei öffentlichen Arbeitgebern sind die in Art. 33 Abs. 2 GG genannten Gesichtspunkte der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung die allein maßgeblichen Kriterien für die Bewerberauswahl. Mit der Ausschreibung legt der öffentliche Arbeitgeber verbindlich das Anforderungsprofil fest (vgl. BAG, Urteil vom 7. April 2011 – 8 AZR 679/09 - ).
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Die Beklagte behauptet nicht, dass der Kläger nach dem von ihr in der Ausschreibung vorgegebenen Anforderungsprofil bereits objektiv nicht für die Tätigkeit geeignet war. Sie trägt vielmehr vor, seine individuelle fachliche und persönliche Qualifikation („große Diskrepanz zwischen Unterlagen und Auftreten, große Kommunikationsprobleme, schlechte Vorbereitung“) habe zu der Negativentscheidung geführt.
Danach besteht hinreichende Erfolgsaussicht für den Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG.
b. Für darüberhinausgehende Ansprüche auf Ersatz von materiellen und/oder immateriellen Schäden wegen Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot besteht dagegen keine hinreichende Erfolgsaussicht. Sie setzen voraus, dass die Beklagte bei benachteiligungsfreier Auswahl den ausgeschriebenen Arbeitsplatz mit dem Kläger als dem am besten geeigneten Bewerber hätte besetzen müssen. Dies gilt insbesondere auch für Ansprüche auf Ersatz von materiellen Schäden nach § 15 Abs. 1 AGG und auf eine nicht nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG eingeschränkte Entschädigung wegen immaterieller Schäden (vgl. dazu: BAG, Urteil vom 17. August 2010 – 9 AZR 839/08 - ).
Die Beklagte, die auch insoweit die Beweislast hat (vgl. BAG, Urteil vom 17. August 2010 – 9 AZR 839/08 -), hat vorgetragen, dass sie mit einer Bewerberin die Stelle besetzt hat, die nicht nur „kommunikationsstärker“ als der Kläger war, sondern - bis auf die Frage nach Kenntnissen über das Jobcenter/Jobcenter EU-aktiv - bei allen Bewertungspunkten positiv abgeschnitten hatte und die über sehr gute Vorerfahrungen verfügte und damit keiner Einarbeitung bedurfte. Der Kläger hat keine begründeten Umstände vorgetragen, die berechtigte Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens aufkommen lassen. Sofern ihm in dem Bewerbungsgespräch von einem Vertreter der Beklagten erklärt worden ist, er sei fachlich geeignet, bedeutete dies nicht, dass nicht andere Bewerber oder Bewerberinnen fachlich noch
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besser als er geeignet waren. Die Beklagte durfte auch die Verweigerung der Antwort auf die Frage, was er als Bundesarbeitsminister ändern würde, negativ bewerten. Es ging erkennbar nicht um die politische Einstellung des Klägers, sondern darum, ob er sich in der auch in der Öffentlichkeit geführten Diskussion um die Rahmenbedingungen der Arbeitsvermittlung auskannte.
c. Eine besonders schwere Persönlichkeitsverletzung des Klägers durch die Beklagte, die einen höheren Schmerzensgeldanspruch des Klägers nach § 823 BGB rechtfertigen könnte, ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers. Allein ein sachlich gehaltener Hinweis auf eine – nach Vorbringen des Klägers offenkundige – Behinderung stellt keine Persönlichkeitsverletzung dar.
5. Ansprüche auf Ersatz von außergerichtlich bereits entstandenen und
durch das Klageverfahren entstehenden Rechtsanwaltskosten scheiden nach §12 a ArbGG aus. Die Vorschrift betrifft neben dem prozessrechtlichen Kostenerstattungsanspruch auch materiell-rechtliche Kostenerstattungsansprüche (vgl. Schwab/Weth/Vollstädt, Arbeitsgerichtsgesetz, 3. Aufl., § 12 a ArbGG Rdn. 27 m.w.N.).
Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht zulässig.
S
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