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LAG Schles­wig-Hol­stein, Ur­teil vom 09.09.2015, 3 Sa 36/15

   
Schlagworte: Einstellung, Schwerbehinderung, Diskriminierung: Behinderung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein
Aktenzeichen: 3 Sa 36/15
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 09.09.2015
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Flensburg, Urteil vom 04.12.2014, 2 Ca 624/14
   

Ur­teil

Im Na­men des Vol­kes

In dem Rechts­streit
pp.

hat die 3. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Schles­wig-Hol­stein auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 09.09.2015 durch die Vi­ze­präsi­den­tin des Lan­des­ar­beits­ge­richts ... als Vor­sit­zen­de und d. eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin ... als Bei­sit­ze­rin und d. eh­ren­amt­li­chen Rich­ter ... als Bei­sit­zer

für Recht er­kannt:

 

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Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Flens­burg vom 04.12.2014 - 2 Ca 624/14 - wird auf ih­re Kos­ten zurück­ge­wie­sen.
Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

Ge­gen die­ses Ur­teil ist das Rechts­mit­tel der Re­vi­si­on nicht ge­ge­ben; im Übri­gen wird auf § 72 a ArbGG ver­wie­sen.

 

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Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über ei­nen Entschädi­gungs­an­spruch des Klägers we­gen Dis­kri­mi­nie­rung bei der Be­wer­bung auf­grund ei­ner Be­hin­de­rung.

Der Kläger hat ei­nen Fach­hoch­schul­ab­schluss und ei­ne Aus­bil­dung im Aus­bil­dungs­be­ruf „Ver­wal­tungs­fach­an­ge­stell­te/r" beim H... er­folg­reich ab­sol­viert. Zur­zeit ist er als An­ge­stell­ter bei der Be­klag­ten in de­ren Ge­ne­ral­di­rek­ti­on in M... beschäftigt. Der Kläger hat ei­nen Grad der Be­hin­de­rung von 70.

Am 27.01.2014 schrieb das K... in F... zum 01.08.2014 Aus­bil­dungs­plätze im dua­len Stu­di­um zur Ver­wal­tungs­in­for­ma­ti­ke­rin / zum Ver­wal­tungs­in­for­ma­ti­ker - Di­plom (FH) aus (Bl. 38 d. A.). ). Die Vergütung hätte im ers­ten Aus­bil­dungs­jahr 793'26 € brut­to be­tra­gen.

In der Aus­schrei­bung heißt es u.a. wie folgt:

Vor­aus­set­zung: Min­des­tens voll­wer­ti­ge Fach­hoch­schul­rei­fe".
Den vollständi­gen Aus­schrei­bungs­text mit ausführ­li­chen In­for­ma­tio­nen zu den An­for­de­run­gen er­hal­ten Sie über das In­ter­net un­ter
....
In­fos zum Aus­wahl­ver­fah­ren:
Das Aus­wahl­ver­fah­ren be­ginnt mit ei­nem Eig­nungs­test. Die­ser ist in zwei Prüfungs­tei­le ge­glie­dert. Im wei­te­ren Aus­wahl­ver­fah­ren wer­den sich dann noch münd­li­che und prak­ti­sche Tei­le an­sch­ließen. Bit­te be­ach­ten Sie, dass je­der Teil des Aus­wahl­ver­fah­rens das er­folg­rei­che Ab­sol­vie­ren des vor­an­ge­gan­ge­nen Test­teils vor­aus­setzt." (Bl. 38 d.A.)

Das dem Test­ver­fah­ren nach­fol­gen­de Vor­stel­lungs­gespräch wird beim K... von ei­nem 7-köpfi­gen Aus­wahl­aus­schuss geführt.

Der Kläger be­warb sich am 27.02.2014 und fügte als An­la­gen sei­ne Zeug­nis­se und ei­nen Le­bens­lauf nebst Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis bei (Bl. 5-14 d. A.). Am 25.03.2014 be­ar­bei­te­te er den ers­ten Eig­nungs­test. Als Aus­gleich et­wai­ger auf sei­ne Be­hin­de­rung zurück­zuführen­der Nach­tei­le wur­de ihm für den Test ein ge­son­der­ter Raum zu­ge­wie­sen und mehr Zeit ein­geräumt. Er wur­de in die­sem Zu­sam­men­hang von der Aus­bil­dungs­lei­te­rin Frau K... R... be­treut. Der Kläger be­stand die­sen Test

 

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nicht. Das K... er­teil­te ihm des­halb mit Schrei­ben vom 31.03.2014 ei­ne Ab­sa­ge (Bl. 15 d. A.).

Auf den Stu­di­en­platz hat­ten sich in­klu­si­ve des Klägers 98 Be­wer­ber be­wor­ben. Das K... hat ei­ne Schwer­be­hin­der­ten­quo­te von fast 15 %.

Mit Schrei­ben vom 16.04.2014 mach­te der Kläger un­ter Hin­weis auf § 82 S. 2 SGB IX ei­nen Entschädi­gungs­an­spruch gemäß § 15 Abs. 2 S. 1 AGG in Höhe von drei Mo­nats­vergütun­gen gel­tend (Bl. 16, 17 d. A.). Nach­dem das K... mit Schrei­ben vom 22.05. 2014 ei­ne Entschädi­gungs­zah­lung ab­lehn­te, er­hob der Kläger am 25.06.2014 die vor­lie­gen­de Zah­lungs­kla­ge.

Er hat stets vor­ge­tra­gen, es be­ste­he die Ver­mu­tung sei­ner Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung, da er nicht ent­spre­chend der Ver­pflich­tung in § 82 S. 2 SGB IX zum Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den wor­den sei. Er erfülle die Vor­aus­set­zun­gen des An­for­de­rungs­pro­fils und sei nicht of­fen­sicht­lich un­ge­eig­net. Auch mit ei­nem schlech­ten Test­ergeb­nis ha­be das K... ihn ein­la­den müssen, denn § 82 S.2 SGB IX schrei­be in­so­weit ei­ne Pri­vi­le­gie­rung von Schwer­be­hin­der­ten fest.

Die Be­klag­te hat stets ge­meint, sie ha­be den Kläger nicht zum Vor­stel­lungs­gespräch ein­la­den müssen. In­fol­ge des Nicht­be­ste­hens des Tests sei der Kläger of­fen­sicht­lich un­ge­eig­net, so dass ei­ne Ein­la­dung ent­behr­lich ge­we­sen sei. Das Be­ste­hen des Tests sei Teil des An­for­de­rungs­pro­fils ge­we­sen.
Das Ar­beits­ge­richt hat mit Ur­teil vom 04.12.2014 der Kla­ge teil­wei­se statt­ge­ge­ben und die Be­klag­te zur Zah­lung ei­ner Entschädi­gung in Höhe von 2 Mo­nats­gehältern ver­ur­teilt. Im Übri­gen hat es die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Hin­sicht­lich der Ein­zel­hei­ten wird auf Tat­be­stand, Anträge und Ent­schei­dungs­gründe des Ur­teils ver­wie­sen.

Ge­gen die­se der Be­klag­ten am 12.01.2015 zu­ge­stell­te Ent­schei­dung hat sie am 09.02.2015 Be­ru­fung ein­ge­legt, die nach Frist­verlänge­rung bis zum 09.04.2015 am 07.04.2015 be­gründet wur­de.

 

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Die Be­klag­te ergänzt und ver­tieft im We­sent­li­chen ihr erst­in­stanz­li­ches Vor­brin­gen.

Die Be­klag­te be­an­tragt:

Un­ter Abände­rung des am 04.12.2014 verkünde­ten Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Flens­burg - 2 Ca 624/14 - wird die Kla­ge ab­ge­wie­sen.

Der Kläger be­an­tragt:

Die Be­ru­fung der Be­klag­ten wird zurück­ge­wie­sen.

Der Kläger hält das an­ge­foch­te­ne Ur­teil so­wohl in tatsäch­li­cher als auch in recht­li­cher Hin­sicht für zu­tref­fend.

Hin­sicht­lich des wei­te­ren Vor­brin­gens wird auf den münd­lich vor­ge­tra­ge­nen In­halt der ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen so­wie die Pro­to­kol­le ver­wie­sen.

Ent­schei­dungs­gründe

I. Die Be­ru­fung ist zulässig. Sie ist form- und frist­ge­recht ein­ge­legt und in­ner­halb der Be­ru­fungs­be­gründungs­frist auch be­gründet wor­den (§§ 64, 66 Abs. 1 ArbGG).

II. Die Be­ru­fung ist je­doch un­be­gründet. Mit ausführ­li­cher, über­zeu­gen­der Be­gründung hat das Ar­beits­ge­richt die Be­klag­te zur Zah­lung ei­ner Entschädi­gung von zwei Mo­nats­gehältern ver­ur­teilt. Da­bei ist es da­von aus­ge­gan­gen, dass die Ein­la­dung des Klägers zum Vor­stel­lungs­gespräch nicht ent­behr­lich ge­we­sen sei, da er das An­for­de­rungs­pro­fil erfülle und des­halb nicht of­fen­sicht­lich un­ge­eig­net ge­we­sen sei. Die Nicht­ein­la­dung trotz Kennt­nis von der Schwer­be­hin­de­rung in­di­zie­re gem. § 22 AGG die Be­nach­tei­li­gung we­gen der Be­hin­de­rung. Die­ses In­diz ha­be die Be­klag­te nicht wi­der­legt. Das Be­ste­hen des Tests ha­be sie nicht zur Vor­aus­set­zung für die Ein­la­dung zum Vor­stel­lungs­gespräch ma­chen dürfen. Die Be­treu­ung während des Tests durch ei­ne Mit­ar­bei­te­rin er­set­ze nicht das Gespräch vor dem Aus­wahl­aus­schuss. Die

 

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Zah­lung ei­ner Entschädi­gung in Höhe von zwei Mo­nats­gehältern sei aus­rei­chend, aber auch an­ge­mes­sen. Dem folgt das Be­ru­fungs­ge­richt. Zur Ver­mei­dung überflüssi­ger Wie­der­ho­lun­gen wird auf die Ent­schei­dungs­gründe des an­ge­foch­te­nen Ur­teils ver­wie­sen (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Le­dig­lich ergänzend und auf den neu­en Vor­trag der Par­tei­en ein­ge­hend, wird Fol­gen­des aus­geführt:

1. Der An­spruch des Klägers auf Zah­lung ei­ner an­ge­mes­se­nen Entschädi­gung in Höhe von 1.586,52 € er­gibt sich aus § 81 Abs. 2 S. 1 und 2 § 82 S. 2 und 3 SGB IX i.V.m. §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 S. 1, § 6 Abs. 1 S. 2, § 15 Abs. 2, § 22 AGG. Da­nach kann der be­nach­tei­lig­te schwer­be­hin­der­te Be­wer­ber ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld ver­lan­gen, wenn er bei der Be­gründung ei­nes Ar­beits- oder Aus­bil­dungs­verhält­nis­ses we­gen sei­ner Be­hin­de­rung be­nach­tei­ligt wor­den ist.

Ein­stel­lungs­be­wer­ber wer­den im Sin­ne des § 7 Abs. 1 AGG be­nach­tei­ligt, wenn ein öffent­li­cher Ar­beit­ge­ber ih­nen die in § 82 Satz 2 SGB IX an­ge­ord­ne­te Bes­ser­stel­lung ge­genüber nicht schwer­be­hin­der­ten Be­wer­be­rin­nen und Be­wer­bern durch Ein­la­dung zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch vor­enthält, ob­wohl ih­nen im Sin­ne von § 82 Satz 3 SGB IX die fach­li­che Eig­nung nicht of­fen­sicht­lich fehlt (ständi­ge Recht­spre­chung: BVerwG vom 03.03.2011 — 5 C 16/10 — Ju­ris, LS 2 und Rz. 18; BAG vom 12.09.2006 — 9 AZR 807/05 — Ju­ris, Rz. 24 m.w.N.)

2. Der Kläger fällt als Be­wer­ber mit ei­nem GdB von 70, wie das Ar­beits­ge­richt zu­tref­fend fest­ge­stellt hat, un­ter den An­wen­dungs­be­reich der § 15 Abs. 2 S. 1, § 6 Abs. 1 und Abs. 2, §§ 1 und 2 AGG. Er hat Tat­sa­chen glaub­haft ge­macht, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen der Be­hin­de­rung ver­mu­ten las­sen, denn er ist nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den wor­den, ob­wohl er über die in der Aus­schrei­bung ge­for­der­te voll­wer­ti­ge Fach­hoch­schul­rei­fe verfügt. Die Be­klag­te hat die Ver­mu­tung der Be­nach­tei­li­gung we­gen der Schwer­be­hin­de­rung nicht ent­kräftet.

a) Nach § 82 Satz 2 SGB IX hat der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber den sich be­wer­ben­den schwer­be­hin­der­ten Men­schen zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­zu­la­den. Die­se Pflicht be­steht nur dann nicht, wenn dem schwer­be­hin­der­ten Men­schen die fach­li­che Eig­nung of­fen­sicht­lich fehlt. Das be­deu­tet, dass der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber ei­nem

 

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schwer­be­hin­der­ten Be­wer­ber die Chan­ce ei­nes Vor­stel­lungs­gespräches gewähren muss, wenn sei­ne fach­li­che Eig­nung zwar zwei­fel­haft ist, aber nicht of­fen­sicht­lich aus­ge­schlos­sen ist. Der schwer­be­hin­der­te Be­wer­ber soll im Rah­men des Vor­stel­lungs­gespräches die Chan­ce ha­ben, den Ar­beit­ge­ber von sei­ner Eig­nung zu über­zeu­gen (BAG vom 12.09.2006 - 9 AZR 807/05 - Rz. 24). In­so­weit han­delt es sich um ei­ne ge­setz­lich an­ge­ord­ne­te Bes­ser­stel­lung (BVerwG vom 03.03.2011 - 5 C 16/10 Rz. 18).

b) Die Be­klag­te hat den Kläger je­doch nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den. Das ist ein klas­si­sches In­diz für ei­ne Be­nach­tei­li­gung. Da­mit greift die Be­weis­last­re­ge­lung des § 22 AGG. Der Ar­beit­ge­ber trägt die Dar­le­gungs- und Be­weis­last dafür, dass nicht auf die Be­hin­de­rung be­zo­ge­ne, sach­li­che Gründe ei­ne un­ter­schied­li­che Be­hand­lung recht­fer­ti­gen. Die Be­klag­te be­ruft sich oh­ne Er­folg dar­auf, sie ha­be den Kläger nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­la­den müssen, weil er of­fen­sicht­lich nicht ge­eig­net ge­we­sen sei, da er schon den ers­ten Teil des Eig­nungs­tes­tes nicht be­stan­den ha­be.

c) Ent­ge­gen der An­sicht der Be­klag­ten fehl­te dem Kläger nicht of­fen­sicht­lich die fach­li­che Eig­nung für die zu be­set­zen­de Stel­le im Sin­ne des § 82 Satz 2 SGB IX.

Ob dies der Fall ist, ist an­hand ei­nes Ver­gleichs zwi­schen dem An­for­de­rungs­pro­fil die­ser Stel­le und dem Leis­tungs­pro­fil der Be­wer­be­rin oder des Be­wer­bers zu er­mit­teln (BAG vom 21.07.2009 - 9 AZR 431/08; BAG vom 16.02.2012, - 8 AZR 697/10 - Rz. 36). Mit der Be­stim­mung des An­for­de­rungs­pro­fils für die zu ver­ge­ben­de Stel­le legt der Dienst­herr die Kri­te­ri­en für die Aus­wahl der Be­wer­ber fest; an ihm wer­den die Ei­gen­schaf­ten und Fähig­kei­ten der Be­wer­ber ge­mes­sen (BVerfG v. 08.10.2007 - 2 BvR 1846/07; BAG vom 16.02.2012, 8 AZR 697/10 - Rz. 38m.w. N.; BVerwG vom 20.06.2013 - 2 VR 1/13 - Rz. 27 m.w.N.). Der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber hat im An­for­de­rungs­pro­fil die for­ma­len Vor­aus­set­zun­gen, fach­li­chen Kennt­nis­se und Fähig­kei­ten so­wie die außer­fach­li­chen Kom­pe­ten­zen zu be­schrei­ben, die für ei­ne er­folg­rei­che Be­wer­bung benötigt wer­den (BVerwG vom 3.3.2011 - 5 C 16/10 - Rz. 21 m.w.N.). Das An­for­de­rungs­pro­fil ist aus­sch­ließlich nach ob­jek­ti­ven Kri­te­ri­en an­zu­fer­ti­gen. Mit der Fest­le­gung des An­for­de­rungs­pro­fils wird ein we­sent­li­cher Teil der Aus-

 

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wahl­ent­schei­dung vor­weg­ge­nom­men. Zu­gleich be­stimmt der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber mit der Fest­le­gung des An­for­de­rungs­pro­fils den Um­fang sei­ner der ei­gent­li­chen Aus­wah­l­ent­schei­dung vor­ge­la­ger­ten ver­fah­rens­recht­li­chen Ver­pflich­tung nach § 82 Satz 2 und Satz 3 SGB IX. Denn schwer­be­hin­der­te Men­schen, die nach den schrift­li­chen Be­wer­bungs­un­ter­la­gen ei­ne ih­rer­seits dis­kri­mi­nie­rungs­frei be­stimm­te fach­li­che Eig­nungs­vor­aus­set­zung, die im An­for­de­rungs­pro­fil aus­drück­lich und ein­deu­tig be­zeich­net ist, nicht erfüllen, müssen nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den wer­den (BVerwG a.a.O, Rz. 22 m.w.N.). Der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber muss das An­for­de­rungs­pro­fil do­ku­men­tie­ren, da­mit die Gründe für sei­ne Ent­schei­dung trans­pa­rent sind und es so nicht möglich ist, Eig­nungs­merk­ma­le nach­zu­schie­ben, die das Ab­se­hen von ei­ner Ein­la­dung zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch recht­fer­ti­gen (BVerwG a.a.O. Rz. 23).

d) Vor die­sem recht­li­chen Hin­ter­grund hat der Kläger das von der Be­klag­ten fest­ge­leg­te An­for­de­rungs­pro­fil erfüllt.

aa) Aus­weis­lich der Aus­schrei­bung ist Vor­aus­set­zung für den Er­halt ei­nes Aus­bil­dungs­plat­zes der Nach­weis, dass min­des­tens ei­ne voll­wer­ti­ge Fach­hoch­schul­rei­fe vor­liegt. Wei­te­re for­ma­le Vor­aus­set­zun­gen enthält das An­for­de­rungs­pro­fil nicht. Die Fach­hoch­schul­rei­fe be­sitzt der Kläger, wie sich aus dem ein­ge­reich­ten Fach­hoch­schul­zeug­nis der be­rufs­bil­den­den Schu­le III M... er­gibt (Bl. 6 d.A.). Zwei­fel an sei­ner körper­li­chen Eig­nung sind nicht vor­han­den.

bb) Die Be­klag­te kann sich nicht dar­auf be­ru­fen, dass der Kläger den Eig­nungs­test nicht be­stan­den hat, denn in­so­weit be­fand sich die­ser be­reits im Aus­wahl­ver­fah­ren. Das Be­ste­hen der Eig­nungs­tests war be­reits aus­weis­lich der Aus­schrei­bung der Be­klag­ten nicht Ge­gen­stand des An­for­de­rungs­pro­fils, son­dern Ge­gen­stand des Aus­wahl­ver­fah­rens. Das er­gibt sich be­reits ein­deu­tig aus dem Wort­laut der Aus­schrei­bung. Da­nach be­ginnt das Aus­wahl­ver­fah­ren mit ei­nem Eig­nungs­test. Die Be­klag­te hat mit­hin, ent­ge­gen ih­rem Vor­brin­gen, ge­ra­de nicht das Be­ste­hen ei­nes Eig­nungs­tests zum Ge­gen­stand des An­for­de­rungs­pro­fils ge­macht.

 

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cc) In die­sem Sta­di­um des Aus­wahl­ver­fah­rens — er­folg­rei­ches Be­ste­hen al­ler Tests - wird be­reits Schritt für Schritt die ei­gent­li­che Aus­wah­l­ent­schei­dung er­ar­bei­tet. Das Of­fen­sicht­lich­keits­er­for­der­nis des § 82 Satz 3 SGB IX muss sich je­doch nach Maßga­be des An­for­de­rungs­pro­fils be­reits ob­jek­tiv nach Durch­sicht der Be­wer­bungs­un­ter­la­gen er­ge­ben. Ist das nicht der Fall, greift § 82 Satz 2 SGB IX, wo­nach die Ein­la­dung ei­nes schwer­be­hin­der­ten Be­wer­bers/ ei­ner schwer­be­hin­der­ten Be­wer­be­rin zum Vor­stel­lungs­gespräch zu er­fol­gen hat. Auf­grund des kon­kre­ten Aus­schrei­bungs­tex­tes kann hier da­hin­ge­stellt wer­den, ob es über­haupt zulässig ist, das Be­ste­hen ei­nes Eig­nungs­tests zum Ge­gen­stand ei­nes „An­for­de­rungs­pro­fils" zu ma­chen.

dd) Un­ge­ach­tet des­sen ist die Vor­ge­hens­wei­se der Be­klag­ten auch in­so­weit recht­lich un­zulässig, als kei­ner­lei Fest­le­gung der de­fi­ni­tiv in den Eig­nungs­tests zu er­zie­len­den Er­geb­nis­se er­folgt ist. Ent­ge­gen der oben ge­nann­ten recht­li­chen Vor­ga­ben ist nicht an­satz­wei­se do­ku­men­tiert und nach­voll­zieh­bar, nach wel­chen Kri­te­ri­en und Maßstäben die Be­klag­te die ein­zel­nen Tests als „be­stan­den" oder „nicht be­stan­den" an­sieht. Auch das zeigt' dass sich die Be­klag­te nicht mehr im „An­for­de­rungs­pro­fil" be­fin­det' son­dern be­reits im Sta­di­um des Aus­wahl­ver­fah­rens. Ih­re Vor­ge­hens­wei­se ist we­der trans­pa­rent noch ob­jek­ti­vier­bar. Schon an­ge­sichts des Feh­lens ei­ner Fest­le­gung der not­wen­di­gen Punkt­zahl sind die Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zun­gen auch nicht an­satz­wei­se hin­rei­chend kon­kre­ti­siert und über­prüfbar, wie das Ar­beits­ge­richt zu­tref­fend fest­ge­stellt hat. Da­nach ist ge­nau das Nach­schie­ben von Eig­nungs­merk­ma­len und Test­ergeb­nis­sen möglich, was dem öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber nach Recht­spre­chung und Ge­setz je­doch un­ter­sagt ist.

ee) Letzt­end­lich hat das Ar­beits­ge­richt auch zu­tref­fend fest­ge­stellt, dass der mögli­che persönli­che Ein­druck, den Frau R... durch die Be­ob­ach­tung des Klägers beim Eig­nungs­test ge­won­nen hat, we­der mit dem Vor­stel­lungs- und Aus­wahl­gespräch vor dem 7-köpfi­gen Gre­mi­um ver­gleich­bar ist noch die­ses er­set­zen kann.

3. Da der Kläger sei­nen An­spruch auch in­ner­halb der Fris­ten des § 15 Abs. 4 AGG und des § 61 b Abs. 1 ArbGG gel­tend ge­macht hat, ist vor­lie­gend nur noch die Fra­ge der An­ge­mes­sen­heit der aus­ge­ur­teil­ten Entschädi­gung fest­zu­stel­len. In­so­weit sind je­doch kei­ne Abwägungs­feh­ler er­kenn­bar, im Übri­gen auch nicht sei­tens der Be­klag-

 

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ten sub­stan­ti­iert vor­ge­tra­gen. Die Be­ru­fungs­kam­mer schließt sich den über­zeu­gen­den Ausführun­gen des Ar­beits­ge­richts an.

4. Nach al­le­dem ist dem Kläger zu Recht ei­ne Entschädi­gung in Höhe von zwei Brut­to­mo­nats­gehältern auf Grund ei­ner ver­mu­te­ten Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung zu­ge­spro­chen wor­den. Die Be­ru­fung war da­her zurück­zu­wei­sen.

Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 97 ZPO.

Die Vor­aus­set­zun­gen des § 72 Abs. 2 ArbGG lie­gen nicht vor, so dass die Re­vi­si­on nicht zu­zu­las­sen war. Vor­lie­gend han­delt es sich aus­sch­ließlich um ei­ne Ein­zel­fall­ent­schei­dung.

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