HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EuGH, Ur­teil vom 13.06.2016, C-178/15 - Sobc­zy­szyn

   
Schlagworte: Urlaub, Urlaubsanspruch, Arbeitszeitgestaltung
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof
Aktenzeichen: C-178/15
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 13.06.2016
   
Leitsätze:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach einem Arbeitnehmer, der sich während des Zeitraums, der im Urlaubskalender der ihn beschäftigenden Einrichtung für den Jahresurlaub festgelegt ist, in einem gemäß dem innerstaatlichen Recht gewährten Genesungsurlaub befindet, nach dessen Ende das Recht verweigert werden kann, seinen bezahlten Jahresurlaub in einem späteren Zeitraum in Anspruch zu nehmen, entgegensteht, sofern, was vom nationalen Gericht zu beurteilen ist, mit dem Anspruch auf Genesungsurlaub ein anderer Zweck verfolgt wird als mit dem Anspruch auf Jahresurlaub.

Vorinstanzen:
   

UR­TEIL DES GERICH­TSHOFS (Zehn­te Kam­mer)

30. Ju­ni 2016(*)

„Vor­la­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung - Ar­beits­zeit­ge­stal­tung - Richt­li­nie 2003/88/EG - An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub - Leh­rer - Ge­ne­sungs­ur­laub - Zeit­lich mit ei­nem
Ge­ne­sungs­ur­laub zu­sam­men­fal­len­der Jah­res­ur­laub - An­spruch auf Jah­res­ur­laub in ei­nem an­de­ren Zeit­raum“

In der Rechts­sa­che C-178/15

be­tref­fend ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen nach Art. 267 AEUV, ein­ge­reicht vom Sąd Re­jo­no­wy dla Wrocławia-Śródmieścia we Wrocławiu X Wydział Pra­cy i Ubez­piec­zeń Społecz­nych (Rayon­ge­richt Bres­lau-Mit­te in Bres­lau, X. Ab­tei­lung für Ar­beits- und So­zi­al­ver­si­che­rungs­sa­chen, Po­len) mit Ent­schei­dung vom 1. April 2015, beim Ge­richts­hof ein­ge­gan­gen am 20. April 2015, in dem Ver­fah­ren

Ali­c­ja Sobc­zy­szyn

ge­gen

Sz­koła Pod­sta­wo­wa w Rze­pli­nie

erlässt

DER GERICH­TSHOF (Zehn­te Kam­mer)

un­ter Mit­wir­kung des Kam­mer­präsi­den­ten F. Bilt­gen, des Rich­ters E. Le­vits (Be­richt­er­stat­ter) und der Rich­te­rin M. Ber­ger,

Ge­ne­ral­an­walt: Y. Bot,

Kanz­ler: A. Ca­lot Es­co­bar,

auf­grund des schrift­li­chen Ver­fah­rens,

un­ter Berück­sich­ti­gung der Erklärun­gen

- der pol­ni­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch B. Ma­jc­zy­na als Be­vollmäch­tig­ten,

- der Eu­ropäischen Kom­mis­si­on, ver­tre­ten durch K. Her­bout-Borcz­ak und M. van Beek als Be­vollmäch­tig­te,

auf­grund des nach Anhörung des Ge­ne­ral­an­walts er­gan­ge­nen Be­schlus­ses, oh­ne Schluss­anträge über die Rechts­sa­che zu ent­schei­den,

fol­gen­des

Ur­teil

1 Das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen be­trifft die Aus­le­gung von Art. 7 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 4. No­vem­ber 2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
2 Es er­geht im Rah­men ei­nes Rechts­streits zwi­schen Frau Ali­c­ja Sobc­zy­szyn und der Sz­koła Pod­sta­wo­wa w Rze­pli­nie (Grund­schu­le Rze­plin, Po­len), ih­rem Ar­beit­ge­ber, über ein Ge­such von Frau Sobc­zy­szyn, mit dem sie ihr Recht auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub für ein Jahr be­gehrt, in dem sie sich im Ge­ne­sungs­ur­laub be­fand.

Recht­li­cher Rah­men

Uni­ons­recht

3 In Art. 1 („Ge­gen­stand und An­wen­dungs­be­reich“) der Richt­li­nie 2003/88 heißt es:

„(1) Die­se Richt­li­nie enthält Min­dest­vor­schrif­ten für Si­cher­heit und Ge­sund­heits­schutz bei der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung.

(2) Ge­gen­stand die­ser Richt­li­nie sind

a) … der Min­dest­jah­res­ur­laub …

…“

4 Art. 7 („Jah­res­ur­laub“) die­ser Richt­li­nie lau­tet:

„(1) Die Mit­glied­staa­ten tref­fen die er­for­der­li­chen Maßnah­men, da­mit je­der Ar­beit­neh­mer ei­nen be­zahl­ten Min­dest­jah­res­ur­laub von vier Wo­chen nach Maßga­be der Be­din­gun­gen für die In­an­spruch­nah­me und die Gewährung erhält, die in den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und/oder nach den ein­zel­staat­li­chen Ge­pflo­gen­hei­ten vor­ge­se­hen sind.

(2) Der be­zahl­te Min­dest­jah­res­ur­laub darf außer bei Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses nicht durch ei­ne fi­nan­zi­el­le Vergütung er­setzt wer­den.“

5 Nach Art. 17 der Richt­li­nie 2003/88 können die Mit­glied­staa­ten von be­stimm­ten Vor­schrif­ten die­ser Richt­li­nie ab­wei­chen. In Be­zug auf ih­ren Art. 7 ist kei­ne Ab­wei­chung zulässig.

Pol­ni­sches Recht

6 Der ver­ab­schie­de­te Text der Usta­wa - Kar­ta Nauc­zy­cie­la (Ge­setz über das Leh­rer­sta­tut) vom 26. Ja­nu­ar 1982 (Dz. U. 2014, Nr. 191, Po­si­ti­on 1198, im Fol­gen­den: Leh­rer­sta­tut) ist ein spe­zi­el­les Ge­setz zur Re­ge­lung der Rech­te und Pflich­ten von Leh­rern. Der durch das Ge­setz vom 26. Ju­ni 1974 (Dz. U. 1974, Nr. 24, Po­si­ti­on 141) an­ge­nom­me­ne Ko­deks Pra­cy (Ar­beits­ge­setz­buch) in geänder­ter Fas­sung gilt für Leh­rer nur hilfs­wei­se.
7 In Art. 64 des Leh­rer­sta­tuts heißt es:

„(1) Leh­rer, die in ei­ner Schu­le beschäftigt sind, in de­ren Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on Som­mer- und Win­ter­fe­ri­en vor­ge­se­hen sind, ha­ben An­spruch auf Jah­res­ur­laub von ei­ner Dau­er, die die­sen Fe­ri­en ent­spricht, und den sie während der ge­nann­ten Fe­ri­en neh­men.

(3) Leh­rer, die in ei­ner Schu­le beschäftigt sind, die kei­ne Schul­fe­ri­en vor­sieht, ha­ben An­spruch auf ei­nen Jah­res­ur­laub von 35 Werk­ta­gen während des im Ur­laubs­plan fest­ge­leg­ten Zeit­raums.

(5a) Leh­rer, die in ei­ner Schu­le beschäftigt sind, die kei­ne Schul­fe­ri­en vor­sieht, ha­ben im Fall der Be­gründung oder Be­en­di­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses im Lau­fe ei­nes Ka­len­der­jahrs An­spruch gemäß den be­son­de­ren Be­stim­mun­gen auf Jah­res­ur­laub in ei­nem Um­fang, der im Verhält­nis zu dem Zeit­raum steht, in dem ge­ar­bei­tet wur­de.“

8 Art. 73 des Leh­rer­sta­tuts sieht vor:

„(1) Der Lei­ter der Ein­rich­tung gewährt un­be­fris­tet in Voll­zeit beschäftig­ten Leh­rern, die min­des­tens sie­ben Dienst­jah­re in der Ein­rich­tung zurück­ge­legt ha­ben, für ei­ne zu­sam­menhängend be­wil­lig­te Dau­er von höchs­tens ei­nem Jahr Ge­ne­sungs­ur­laub, um sich ei­ner ärzt­lich ver­schrie­be­nen Be­hand­lung zu un­ter­zie­hen …

(5) Während des Ge­ne­sungs­ur­laubs behält der Leh­rer den An­spruch auf sein mo­nat­li­ches Grund­ge­halt zuzüglich Dienst­al­ters­zu­la­ge so­wie den An­spruch auf sons­ti­ge Leis­tun­gen auf­grund des Ar­beits­verhält­nis­ses ein­sch­ließlich der in Art. 54 vor­ge­se­he­nen so­zia­len Vergüns­ti­gun­gen.

(6) Spätes­tens zwei Wo­chen vor En­de des Ge­ne­sungs­ur­laubs lädt der Schul­lei­ter den Leh­rer zu Kon­troll­un­ter­su­chun­gen zwecks der Fest­stel­lung vor, ob nichts ge­gen die Ausübung sei­ner Tätig­keit spricht.

(8) Ein neu­er­li­cher Ge­ne­sungs­ur­laub kann Leh­rern frühes­tens ein Jahr nach Be­en­di­gung des vor­her­ge­hen­den Ge­ne­sungs­ur­laubs zu­gu­te­kom­men. Auf die gan­ze Lauf­bahn be­zo­gen darf der Ge­ne­sungs­ur­laub ei­ne Ge­samt­dau­er von drei Jah­ren nicht über­schrei­ten.

(10) Der be­han­deln­de Ver­trags­arzt des Leh­rers ent­schei­det über die Not­wen­dig­keit ei­nes Ge­ne­sungs­ur­laubs zur Durchführung ei­ner ver­schrie­be­nen Be­hand­lung. Die Ent­schei­dung nach Satz 1 kann gemäß dem Ver­fah­ren, das in den nach Abs. 11 er­las­se­nen Vor­schrif­ten vor­ge­se­hen ist, bei der in die­sen Vor­schrif­ten be­stimm­ten Rechts­be­helf­s­in­stanz an­ge­foch­ten wer­den. …“

9 Art. 14 des Ar­beits­ge­setz­buchs fin­det sich in des­sen Ka­pi­tel II („Tra­gen­de Grundsätze des Ar­beits­rechts“) und be­stimmt:

„Je­der Ar­beit­neh­mer hat ein Recht auf Er­ho­lung gemäß den Vor­schrif­ten über die Ar­beits­zeit, die Fei­er­ta­ge und den Jah­res­ur­laub.“

10 Art. 152 Abs. 1 des Ar­beits­ge­setz­buchs lau­tet:

„Je­der Ar­beit­neh­mer hat An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub von zu­sam­menhängen­der Dau­er (‚Ur­laub‘).“

11 Art. 165 des Ar­beits­ge­setz­buchs sieht vor:

„Kann der Ar­beit­neh­mer sei­nen Ur­laub zum fest­ge­leg­ten Zeit­punkt aus Gründen, die sei­ne Ab­we­sen­heit vom Ar­beits­platz recht­fer­ti­gen, nicht an­tre­ten, ins­be­son­de­re auf­grund

1. ei­ner vorüber­ge­hen­den krank­heits­be­ding­ten Ar­beits­unfähig­keit,

2. ei­ner Iso­lie­rung we­gen an­ste­cken­der Krank­heit,

3. ei­ner Ein­be­ru­fung zu ei­ner Mi­litärübung oder ei­ner mi­litäri­schen Schu­lung für ei­nen Zeit­raum von bis zu drei Mo­na­ten,

4. ei­nes Mut­ter­schafts­ur­laubs,

so ist der Ar­beit­ge­ber ver­pflich­tet, den Ur­laub auf später zu ver­schie­ben.“

12 Art. 166 des Ar­beits­ge­setz­buchs be­stimmt:

„Wur­den Ur­laubs­ta­ge auf­grund

1. ei­ner vorüber­ge­hen­den krank­heits­be­ding­ten Ar­beits­unfähig­keit,

2. ei­ner Iso­lie­rung we­gen an­ste­cken­der Krank­heit,

3. der Teil­nah­me an ei­ner Mi­litärübung oder ei­ner mi­litäri­schen Schu­lung für ei­nen Zeit­raum von bis zu drei Mo­na­ten,

4. ei­nes Mut­ter­schafts­ur­laubs,

nicht ge­nom­men, so ist der Ar­beit­ge­ber ver­pflich­tet, sie auf später zu ver­schie­ben.“

Aus­gangs­rechts­streit und Vor­la­ge­fra­ge

13

Frau Sobc­zy­szyn ist seit dem Jahr 2008 Leh­re­rin an der Lehr­an­stalt Sz­koła Pod­sta­wo­wa w Rze­pli­nie (Grund­schu­le Rze­plin), ih­rem Ar­beit­ge­ber.

14 Am 1. Ja­nu­ar 2011 hat­te Frau Sobc­zy­szyn ei­nen An­spruch auf 35 Ta­ge Jah­res­ur­laub gemäß Art. 64 Abs. 3 des Leh­rer­sta­tuts er­wor­ben. Von ih­rem Ar­beit­ge­ber wur­de ihr ein Ge­ne­sungs­ur­laub vom 28. März bis 18. No­vem­ber 2011 gemäß Art. 73 des Leh­rer­sta­tuts gewährt, um sich ei­ner ärzt­lich ver­schrie­be­nen Be­hand­lung zu un­ter­zie­hen.
15 Am 27. April 2012 mach­te Frau Sobc­zy­szyn ih­ren An­spruch auf die für das Jahr 2011 er­wor­be­nen Jah­res­ur­laubs­ta­ge gel­tend, die sie auf­grund ih­res Ge­ne­sungs­ur­laubs nicht hat­te neh­men können. Ihr Ar­beit­ge­ber trat dem An­spruch mit der Be­gründung ent­ge­gen, dass ihr An­spruch auf Jah­res­ur­laub für das Jahr 2011, da sie die­sen nach dem Ur­laubs­plan für 2011 vom 1. bis 31. Ju­li 2011 hätte neh­men sol­len, in dem im sel­ben Zeit­raum lie­gen­den Ge­ne­sungs­ur­laub auf­ge­gan­gen sei.
16 Das von Frau Sobc­zy­szyn mit ei­ner Kla­ge be­fass­te vor­le­gen­de Ge­richt hegt Zwei­fel an der Ver­ein­bar­keit der na­tio­na­len Be­stim­mun­gen, die den An­spruch der Leh­rer auf Jah­res­ur­laub re­geln, mit Art. 7 der Richt­li­nie 2003/88. Sei­ner An­sicht nach hat­te der Ge­richts­hof in­so­weit noch kei­ne Ge­le­gen­heit, sich zur Aus­le­gung die­ser Be­stim­mung des Uni­ons­rechts in ei­nem Fall zu äußern, in dem ein Jah­res­ur­laub von ei­nem Ge­ne­sungs­ur­laub, wie nach pol­ni­schem Recht vor­ge­se­hen, über­la­gert wird.
17 Des­halb hat der Sąd Re­jo­no­wy dla Wrocławia-Śródmieścia we Wrocławiu X Wydział Pra­cy i Ubez­piec­zeń Społecz­nych (Rayon­ge­richt Bres­lau-Mit­te in Bres­lau, X. Ab­tei­lung für Ar­beits- und So­zi­al­ver­si­che­rungs­sa­chen, Po­len) be­schlos­sen, das Ver­fah­ren aus­zu­set­zen und dem Ge­richts­hof fol­gen­de Fra­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­zu­le­gen:

Ist Art. 7 der Richt­li­nie 2003/88, wo­nach die Mit­glied­staa­ten die er­for­der­li­chen Maßnah­men tref­fen, da­mit je­der Ar­beit­neh­mer ei­nen be­zahl­ten Min­dest­jah­res­ur­laub von vier Wo­chen nach Maßga­be der Be­din­gun­gen für die In­an­spruch­nah­me und die Gewährung erhält, die in den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und/oder nach den ein­zel­staat­li­chen Ge­pflo­gen­hei­ten vor­ge­se­hen sind, da­hin aus­zu­le­gen, dass ein Leh­rer, der Ge­ne­sungs­ur­laub, wie ihn das Leh­rer­sta­tut vor­sieht, in An­spruch ge­nom­men hat, da­ne­ben ei­nen An­spruch auf Er­ho­lungs­ur­laub nach den all­ge­mei­nen ar­beits­recht­li­chen Be­stim­mun­gen in dem Jahr er­wirbt, in dem er den Ge­ne­sungs­ur­laub in An­spruch ge­nom­men hat?

Zur Vor­la­ge­fra­ge

18 Mit sei­ner Fra­ge möch­te das vor­le­gen­de Ge­richt im We­sent­li­chen wis­sen, ob Art. 7 der Richt­li­nie 2003/88 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er ei­ner in­ner­staat­li­chen Re­ge­lung oder Pra­xis wie der im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­den ent­ge­gen­steht, wo­nach ei­nem Ar­beit­neh­mer, der sich während des Zeit­raums, der im Ur­laubs­ka­len­der der ihn beschäfti­gen­den Ein­rich­tung für den Jah­res­ur­laub fest­ge­legt ist, in ei­nem gemäß dem in­ner­staat­li­chen Recht gewähr­ten Ge­ne­sungs­ur­laub be­fin­det, nach des­sen En­de das Recht ver­wei­gert wer­den kann, sei­nen Jah­res­ur­laub in ei­nem späte­ren Zeit­raum in An­spruch zu neh­men.
19 In­so­weit ist ers­tens dar­auf hin­zu­wei­sen, dass je­der Ar­beit­neh­mer, wie sich be­reits aus dem Wort­laut von Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88 er­gibt - ei­ner Be­stim­mung, von der die­se Richt­li­nie kei­ne Ab­wei­chung zulässt -, An­spruch auf ei­nen be­zahl­ten Min­dest­jah­res­ur­laub von vier Wo­chen hat. Die­ser An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub ist als ein be­son­ders be­deut­sa­mer Grund­satz des So­zi­al­rechts der Uni­on an­zu­se­hen, des­sen Um­set­zung durch die zuständi­gen na­tio­na­len Stel­len nur in den Gren­zen er­fol­gen kann, die in der Richt­li­nie 2003/88 selbst aus­drück­lich vor­ge­se­hen sind (Ur­teil vom 10. Sep­tem­ber 2009, Vicen­te Pe­re­da, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 18 und die dort an­geführ­te Recht­spre­chung).
20 Zwei­tens ist fest­zu­stel­len, dass dem An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub als Grund­satz des So­zi­al­rechts der Uni­on nicht nur be­son­de­re Be­deu­tung zu­kommt, son­dern dass er auch in Art. 31 Abs. 2 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der glei­che recht­li­che Rang wie den Verträgen zu­er­kannt wird, aus­drück­lich ver­an­kert ist (Ur­tei­le vom 22. No­vem­ber 2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn. 37, und vom 3. Mai 2012, Nei­del, C-337/10, EU:C:2012:263, Rn. 40).
21 Drit­tens darf der An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub nicht re­strik­tiv aus­ge­legt wer­den (vgl. Ur­teil vom 22. April 2010, Zen­tral­be­triebs­rat der Lan­des­kran­kenhäuser Ti­rols, C-486/08, EU:C:2010:215, Rn. 29).
22 Wei­ter hat der Ge­richts­hof be­reits ent­schie­den, dass Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88 ei­ner na­tio­na­len Re­ge­lung, die für die Wahr­neh­mung des mit die­ser Richt­li­nie aus­drück­lich ver­lie­he­nen An­spruchs auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub Mo­da­litäten vor­sieht, die so­gar den Ver­lust die­ses An­spruchs am En­de ei­nes Be­zugs­zeit­raums be­inhal­ten, grundsätz­lich nicht ent­ge­gen­steht, was je­doch un­ter der Be­din­gung steht, dass der Ar­beit­neh­mer, des­sen An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub er­lo­schen ist, tatsächlich die Möglich­keit hat­te, die­sen An­spruch wahr­zu­neh­men (Ur­teil vom 10. Sep­tem­ber 2009, Vicen­te Pe­re­da, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 19 und die dort an­geführ­te Recht­spre­chung).
23 Aus der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs geht auch her­vor, dass der An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub es dem Ar­beit­neh­mer ermögli­chen soll, sich zu er­ho­len und über ei­nen Zeit­raum für Ent­span­nung und Frei­zeit zu verfügen (vgl. Ur­teil vom 20. Ja­nu­ar 2009, Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 25).
24 Der Ge­richts­hof hat dar­aus ab­ge­lei­tet, dass im Fall des Über­lap­pens ei­nes Jah­res­ur­laubs und ei­nes Krank­heits­ur­laubs Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er ein­zel­staat­li­chen Be­stim­mun­gen oder Ge­pflo­gen­hei­ten ent­ge­gen­steht, nach de­nen der An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub mit Ab­lauf des Be­zugs­zeit­raums und/oder ei­nes im na­tio­na­len Recht fest­ge­leg­ten Über­tra­gungs­zeit­raums er­lischt, wenn sich der Ar­beit­neh­mer während des ge­sam­ten Be­zugs­zeit­raums oder ei­nes Teils da­von im Krank­heits­ur­laub be­fand und es ihm des­halb tatsächlich nicht möglich war, die­sen An­spruch wahr­zu­neh­men (vgl. ins­be­son­de­re Ur­tei­le vom 20. Ja­nu­ar 2009, Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 49, und vom 10. Sep­tem­ber 2009, Vicen­te Pe­re­da, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 19).
25 Der Zweck des An­spruchs auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub, der dar­in liegt, es dem Ar­beit­neh­mer zu ermögli­chen, sich zu er­ho­len und über ei­nen Zeit­raum für Ent­span­nung und Frei­zeit zu verfügen, weicht nämlich vom Zweck des An­spruchs auf Krank­heits­ur­laub ab, der dem Ar­beit­neh­mer die Ge­ne­sung von ei­ner Krank­heit ermögli­chen soll (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 21. Ju­ni 2012, AN­GED, C-78/11, EU:C:2012:372, Rn. 19 und die dort an­geführ­te Recht­spre­chung).
26 In An­be­tracht die­ser un­ter­schied­li­chen Zwe­cke der bei­den Ur­laubs­ar­ten ist der Ge­richts­hof zu dem Er­geb­nis ge­langt, dass ein Ar­beit­neh­mer, der sich während ei­nes im Vor­aus fest­ge­leg­ten be­zahl­ten Jah­res­ur­laubs im Krank­heits­ur­laub be­fin­det, be­rech­tigt ist, den Jah­res­ur­laub auf sei­nen An­trag zu ei­ner an­de­ren als der mit dem Krank­heits­ur­laub zu­sam­men­fal­len­den Zeit zu neh­men, da­mit er ihn tatsächlich in An­spruch neh­men kann (vgl. Ur­tei­le vom 10. Sep­tem­ber 2009, Vicen­te Pe­re­da, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 22, und vom 21. Ju­ni 2012, AN­GED, C-78/11, EU:C:2012:372, Rn. 20).
27 Die­se Erwägun­gen, die sich vollständig auf ei­ne Si­tua­ti­on wie die im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­de über­tra­gen las­sen, in der ein Ge­ne­sungs­ur­laub ei­nen im Vor­aus fest­ge­leg­ten Jah­res­ur­laub über­la­gert, bil­den den Hin­ter­grund für die Prüfung, ob die­se Über­la­ge­rung un­ter Berück­sich­ti­gung des ge­ge­be­nen­falls un­ter­schied­li­chen Zwecks der bei­den frag­li­chen Ur­laubs­ar­ten dem ent­ge­gen­ste­hen kann, dass der vom Ar­beit­neh­mer er­wor­be­ne Jah­res­ur­laub zu ei­nem späte­ren Zeit­punkt ge­nom­men wird.
28 In­so­weit kommt die Ent­schei­dung, ob sich der Zweck des Ge­ne­sungs­ur­laubs von dem des in Art. 7 der Richt­li­nie 2003/88 de­fi­nier­ten be­zahl­ten Jah­res­ur­laubs in sei­ner Aus­le­gung durch den Ge­richts­hof un­ter­schei­det, zwar letzt­lich dem na­tio­na­len Ge­richt zu, das für die Aus­le­gung des in­ner­staat­li­chen Rechts die al­lei­ni­ge Zuständig­keit hat, doch der Ge­richts­hof, der da­zu auf­ge­ru­fen ist, dem na­tio­na­len Ge­richt ei­ne Ant­wort zu ge­ben, die im Hin­blick auf die Ent­schei­dung des bei die­sem anhängi­gen Rechts­streits nütz­lich ist, kann dem na­tio­na­len Ge­richt zu die­sem Zweck Hin­wei­se ge­ben, die er aus sämt­li­chen von die­sem ge­ge­be­nen An­halts­punk­ten und ins­be­son­de­re der Be­gründung der Vor­la­ge­ent­schei­dung ab­lei­tet.
29 Zum Zweck des An­spruchs auf Ge­ne­sungs­ur­laub, wie er vom pol­ni­schen Recht vor­ge­se­hen ist, ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass es in Art. 73 Abs. 1 des Leh­rer­sta­tuts heißt, dass die­ser Ur­laub für ei­ne zu­sam­menhängend be­wil­lig­te Dau­er von höchs­tens ei­nem Jahr gewährt wird, „um sich ei­ner ärzt­lich ver­schrie­be­nen Be­hand­lung zu un­ter­zie­hen“. Nach Abs. 10 des­sel­ben Ar­ti­kels ist es der be­han­deln­de Ver­trags­arzt des Leh­rers, der über die „Not­wen­dig­keit ei­nes Ge­ne­sungs­ur­laubs zur Durchführung ei­ner ver­schrie­be­nen Be­hand­lung“ ent­schei­det. Außer­dem sieht Art. 73 Abs. 6 die­ses Sta­tuts vor, dass sich der Leh­rer zwei Wo­chen vor En­de des Ge­ne­sungs­ur­laubs Kon­troll­un­ter­su­chun­gen zwecks der Fest­stel­lung un­ter­zie­hen muss, ob nichts ge­gen die Wie­der­auf­nah­me sei­ner Tätig­keit spricht.
30 Wie das vor­le­gen­de Ge­richt in sei­nem Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen selbst fest­ge­stellt hat, sind die­se Ge­sichts­punk­te aber da­zu an­ge­tan, es plau­si­bel er­schei­nen zu las­sen, dass der Ge­ne­sungs­ur­laub, wie er im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de steht, die Ver­bes­se­rung des Ge­sund­heits­zu­stands der Ar­beit­neh­mer, de­nen er ver­schrie­ben wird, be­zweckt und die­sen an­ders als der in Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88 vor­ge­se­he­ne be­zahl­te Jah­res­ur­laub kei­nen Zeit­raum für Ent­span­nung und Frei­zeit ver­schaf­fen soll, da sie sich ei­ner ärzt­lich ver­schrie­be­nen Be­hand­lung un­ter­zie­hen müssen.
31 Es ist vom vor­le­gen­den Ge­richt im Licht die­ser Hin­wei­se so­wie al­ler Ein­zel­hei­ten, die auf na­tio­na­ler Ebe­ne die Gewährung des Rechts auf Ge­ne­sungs­ur­laub re­geln, zu be­ur­tei­len, ob sich der Zweck des letzt­ge­nann­ten Rechts von dem des in Art. 7 der Richt­li­nie 2003/88 de­fi­nier­ten Rechts auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub in sei­ner Aus­le­gung durch den Ge­richts­hof un­ter­schei­det.
32 Soll­te das vor­le­gen­de Ge­richt ei­nen sol­chen Un­ter­schied be­ja­hen, muss die na­tio­na­le Re­ge­lung die Pflicht für den Ar­beit­ge­ber vor­se­hen, dem be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer den Jah­res­ur­laub in ei­nem an­de­ren, vom Ar­beit­neh­mer vor­ge­schla­ge­nen Zeit­raum zu gewähren, der ge­ge­be­nen­falls mit zwin­gen­den Gründen des Ar­beit­ge­ber­in­ter­es­ses ver­ein­bar ist, oh­ne von vorn­her­ein aus­zu­sch­ließen, dass sich die­ser Zeit­raum außer­halb des Be­zugs­zeit­raums für den frag­li­chen Jah­res­ur­laub be­fin­det (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 10. Sep­tem­ber 2009, Vicen­te Pe­re­da, C-277/08, EU:C:2009:542, Rn. 22 und 23).
33 Wie sich nämlich aus der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs er­gibt, ent­fal­tet sich die po­si­ti­ve Wir­kung des be­zahl­ten Jah­res­ur­laubs für die Si­cher­heit und die Ge­sund­heit des Ar­beit­neh­mers zwar dann vollständig, wenn der Ur­laub in dem hierfür vor­ge­se­he­nen, al­so dem lau­fen­den Jahr ge­nom­men wird, doch ver­liert die­se Ru­he­zeit ih­re Be­deu­tung in­so­weit nicht, wenn sie in ei­nem späte­ren Zeit­raum ge­nom­men wird (vgl. Ur­tei­le vom 6. April 2006, Fe­de­ra­tie Neder­land­se Vak­be­we­ging, C-124/05, EU:C:2006:244, Rn. 30, und vom 20. Ja­nu­ar 2009, Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 30).
34 Nach al­le­dem ist auf die Vor­la­ge­fra­ge zu ant­wor­ten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er ei­ner in­ner­staat­li­chen Re­ge­lung oder Pra­xis wie der im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­den, wo­nach ei­nem Ar­beit­neh­mer, der sich während des Zeit­raums, der im Ur­laubs­ka­len­der der ihn beschäfti­gen­den Ein­rich­tung für den Jah­res­ur­laub fest­ge­legt ist, in ei­nem gemäß dem in­ner­staat­li­chen Recht gewähr­ten Ge­ne­sungs­ur­laub be­fin­det, nach des­sen En­de das Recht ver­wei­gert wer­den kann, sei­nen be­zahl­ten Jah­res­ur­laub in ei­nem späte­ren Zeit­raum in An­spruch zu neh­men, ent­ge­gen­steht, so­fern, was vom na­tio­na­len Ge­richt zu be­ur­tei­len ist, mit dem An­spruch auf Ge­ne­sungs­ur­laub ein an­de­rer Zweck ver­folgt wird als mit dem An­spruch auf Jah­res­ur­laub.

Kos­ten

35 Für die Par­tei­en des Aus­gangs­ver­fah­rens ist das Ver­fah­ren ein Zwi­schen­streit in dem beim vor­le­gen­den Ge­richt anhängi­gen Rechts­streit; die Kos­ten­ent­schei­dung ist da­her Sa­che die­ses Ge­richts. Die Aus­la­gen an­de­rer Be­tei­lig­ter für die Ab­ga­be von Erklärun­gen vor dem Ge­richts­hof sind nicht er­stat­tungsfähig.

Aus die­sen Gründen hat der Ge­richts­hof (Zehn­te Kam­mer) für Recht er­kannt:

Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 4. No­vem­ber 2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung ist da­hin aus­zu­le­gen, dass er ei­ner in­ner­staat­li­chen Re­ge­lung oder Pra­xis wie der im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­den, wo­nach ei­nem Ar­beit­neh­mer, der sich während des Zeit­raums, der im Ur­laubs­ka­len­der der ihn beschäfti­gen­den Ein­rich­tung für den Jah­res­ur­laub fest­ge­legt ist, in ei­nem gemäß dem in­ner­staat­li­chen Recht gewähr­ten Ge­ne­sungs­ur­laub be­fin­det, nach des­sen En­de das Recht ver­wei­gert wer­den kann, sei­nen be­zahl­ten Jah­res­ur­laub in ei­nem späte­ren Zeit­raum in An­spruch zu neh­men, ent­ge­gen­steht, so­fern, was vom na­tio­na­len Ge­richt zu be­ur­tei­len ist, mit dem An­spruch auf Ge­ne­sungs­ur­laub ein an­de­rer Zweck ver­folgt wird als mit dem An­spruch auf Jah­res­ur­laub.

Un­ter­schrif­ten

* Ver­fah­rens­spra­che: Pol­nisch.

Quel­le: Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on (EuGH), http://cu­ria.eu­ro­pa.eu

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