Update Arbeitsrecht 19|2021 vom 22.09.2021
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Zweifel an einer ärztlichen Krankschreibung, die exakt für die Dauer der Kündigungsfrist gilt
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21
Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die eine Arbeitsunfähigkeit im gekündigten Arbeitsverhältnis genau für die Dauer der Kündigungsfrist bescheinigt, kann in ihrem Beweiswert erschüttert sein.
§§ 3, 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG)
Rechtlicher Hintergrund
Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so kann er vom Arbeitgeber gemäß § 3 Abs.1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) Entgeltfortzahlung für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit verlangen, längstens bis zur Dauer von sechs Wochen.
Um die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, können (und müssen) Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung vorlegen, aus der das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit hervorgeht und ihre voraussichtliche Dauer, § 5 Abs.1 Satz 2 und 3 EFZG. Mit der Vorlage einer solchen ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) sind die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in der Regel ausreichend bewiesen, und zwar auch dann, wenn das Vorliegen einer AU vor Gericht zwischen den Parteien umstritten ist.
Allerdings kann der Beweiswert einer ärztlichen AU-Bescheinigung nach der Rechtsprechung ausnahmsweise erschüttert sein, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die AU-Bescheinigung unrichtig ist.
Das ist z.B. dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer während seiner angeblichen Krankheit anstrengende Arbeiten bei einem anderen Arbeitgeber verrichtet, oder auch dann, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber im Streit eine Krankmeldung angedroht hat (sog. angekündigtes Krankfeiern). Eine bloße körperliche Betätigung als solche, z.B. im Fitnessstudio, ist dagegen noch kein Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der AU-Bescheinigung. Denn eine körperliche Betätigung kann, je nach Krankheit, für die Genesung förderlich sein.
Über die bisher anerkannten Konstellationen hinaus hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer aktuellen Entscheidung den Beweiswert einer AU-Bescheinigung auch in einem weiteren Fall als erschüttert angesehen, d.h. das BAG hat dem ärztlichen Attest aufgrund der Besonderheiten des Streitfalls keinen Glauben geschenkt.
Sachverhalt
Eine knapp sechs Monate beschäftigte kaufmännische Angestellte kündigte am 08.02.2019 mit zweiwöchiger Frist zum 22.02.2019. Gleichzeitig legte sie ihrem Arbeitgeber eine auf den 08.02.2019 datierte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete ärztliche AU-Bescheinigung vor, die ihr eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vom 08.02.2019 bis zum 22.02.2019 attestierte, d.h. genau für die Dauer der Kündigungsfrist.
Der Arbeitgeber verweigerte die Entgeltfortzahlung, denn der Beweiswert der AU-Bescheinigung war seiner Meinung nach erschüttert.
Daraufhin erhob die Angestellte Zahlungsklage und hatte damit vor dem Arbeitsgericht Braunschweig (Urteil vom 24.07.2019, 3 Ca 95/19) und in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen Erfolg (LAG Niedersachsen, Urteil vom 13.10.2020, 10 Sa 619/19).
Dass die diagnostizierte Erkrankung bzw. die dadurch verursachte AU mit der zweiwöchigen Dauer der Kündigungsfrist deckungsgleich war, ließ das LAG nicht als Argument gegen den Beweiswert der AU-Bescheinigung gelten.
Entscheidung des BAG
Nachdem das BAG die vom LAG zunächst nicht zugelassene Revision auf Antrag des Arbeitgebers nachträglich zugelassen hatte, konnte dieser den Prozess vor dem BAG für sich entscheiden. In der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung des BAG heißt es zur Begründung:
Die Angestellte hatte die von ihr behauptete AU zunächst mit einer ärztlichen AU-Bescheinigung nachgewiesen. Den Beweiswert dieses gesetzlich vorgesehenen Beweismittels kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er Umstände nachweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben.
Dann wiederum muss der Arbeitnehmer genau erklären bzw. beweisen, dass und warum er arbeitsunfähig war. Diesen Beweis können Arbeitnehmer führen, indem sie ihren Arzt von der Schweigepflicht entbinden und der Arzt dann als Zeuge vor Gericht vernommen wird.
Im Streitfall hatte der Arbeitgeber, so das BAG, den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert. Das Zusammentreffen zwischen der Kündigung vom 08.02. zum 22.02.2019 und der ebenfalls am 08.02. bis zum 22.02.2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründete nämlich einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit.
Da die Angestellte auch nach einem Hinweis des BAG nicht ausreichend konkret begründet bzw. bewiesen hatte, dass und woran sie angeblich erkrankt war, wies das BAG ihre Klage ab.
Praxishinweis
Auf der Grundlage des BAG-Urteils kann es künftig öfter als bisher dazu kommen, dass Arbeitnehmer mit einer ärztlichen AU-Bescheinigung „nicht durchkommen“, weil diese vom Arbeitgeber zurecht angezweifelt wird.
Vor allem nach Ausspruch einer Kündigung kommt es nämlich immer wieder vor, dass Arbeitnehmer länger erkranken, manchmal für die gesamte Dauer der Kündigungsfrist. In solchen Fällen können Arbeitgeber künftig die Entgeltfortzahlung verweigern und sich darauf berufen, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert ist.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21 (Pressemeldung des Gerichts)
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