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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 14|2023

Update Arbeitsrecht 14|2023 vom 12.07.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Verwendung von Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung vor Gericht

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.06.2023, 2 AZR 296/22

Im Kündigungsschutzprozess können vorsätzliche Pflichtverstöße des Arbeitnehmers durch Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung auch dann bewiesen werden, wenn die Überwachung nicht vollständig mit dem Datenschutzrechts vereinbar ist.

§ 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 1 Abs.2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.5 Abs.1 Buchst. c) und e); Art.17 Abs.1 Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO); § 26 Abs.1 Satz 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG); §§ 87 Abs.1 Nr.6; 102 Abs.1 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Rechtlicher Hintergrund

Eine offene Videoüberwachung ist in bestimmten Bereichen eines Betriebs wie z.B. in Eingangs- oder Kassenbereichen rechtlich zulässig, da dort die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass es zu Rechtsverstößen von Kunden oder Mitarbeitern kommt. „Offen“ ist die Videoüberwachung, wenn durch Schilder auf die Kameras hingewiesen wird, und wenn diese selbst auch nicht verdeckt, sondern für jeden erkennbar angebracht sind.

Rechtsgrundlagen und Begrenzungen der Videoüberwachung am Arbeitsplatz ergeben sich aus Art.5 Abs.1 Buchst. c), e) und Art.17 Abs.1 Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) sowie aus § 26 Abs.1 Satz 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG). 

Nach Art.5 Abs.1 Buchst. c) DS-GVO müssen vom Arbeitgeber angefertigte Videoaufzeichnungen, d.h. die personenbezogenen Daten der gefilmten Kunden und Mitarbeiter, zweckangemessen und auf das notwendige Maß beschränkt sein (Grundsatz der Datenminimierung), und zwar auch im Hinblick auf die Speicherdauer (Art.5 Abs.1 Buchst. e) DS-GVO). Besteht kein spezieller Verdacht gegen eine bestimmte Person, sind Videoaufnahmen nach vorherrschender Meinung nach drei bis zehn Tage zu löschen.

Gemäß § 26 Abs.1 Satz 1 BDSG ist eine offene Videoüberwachung in bestimmten betrieblichen Bereichen erforderlich für die Durchführung der Beschäftigungsverhältnisse und daher grundsätzlich zulässig.

Gibt es einen Betriebsrat, braucht der Arbeitgeber für jede einzelne Kamera im Betrieb seine Zustimmung. Denn der Betriebsrat hat gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen.

Fraglich ist, ob sich der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess zum Beweis eines - angeblichen - Pflichtverstoßes des gekündigten Arbeitnehmers auf Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung auch dann berufen kann, wenn er bei der Videoüberwachung möglicherweise nicht alle datenschutzrechtlichen Vorgaben beachtet hat. 

Ja, das geht, so das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer aktuellen Entscheidung: BAG, Urteil vom 29.06.2023, 2 AZR 296/22.

Sachverhalt

Ein seit 1995 beschäftigter Teamleiter eines großen metallverarbeitenden Betriebs wurde - nach vorheriger Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Verdacht eines Arbeitszeitbetrugs sowie nach Anhörung des Betriebsrats - im Oktober 2019 fristlos und hilfsweise fristgemäß gekündigt. 

Der Arbeitgeber warf ihm vor, er habe im Juni 2018 vor Beginn der Nachtschicht das Werksgelände wieder verlassen und daher bzgl. der Nachtschicht einen Arbeitszeitbetrug begangen. Auch an zwei Tagen im Oktober 2018 soll er das Werksgelände 21 Minuten bzw. 15 Minuten vor Schichtende eigenmächtig verlassen haben. 

Das Arbeitsgericht Hannover gab der Kündigungsschutzklage des Teamleiters mit der Begründung statt, dass der Arbeitgeber seine Vorwürfe im Prozess angeblich auf eine andere Sachverhaltsdarstellung als gegenüber dem Betriebsrat in der Betriebsratsanhörung stütze (Urteil vom 11.09.2020, 6 Ca 116/19). Daher bewertete das Arbeitsgericht die streitigen Kündigungen als unwirksam gemäß § 102 Abs.1 Satz 3 BetrVG, da der Betriebsrat - angeblich - nicht ordnungsgemäß angehört worden war.

Auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen entschied zugunsten des Klägers, allerdings mit einer anderen Begründung (Urteil vom 06.07.2022, 8 Sa 1149/20, s. dazu Update Arbeitsrecht 22|2022). 

Dem Arbeitgeber war es, so das LAG, verwehrt, die mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung bzw. mit Hilfe eines Kartenlesegeräts an den Werkstoren gewonnenen Anwesenheitsdaten in das Verfahren einzuführen (LAG, Urteil, Rn.55). 

Denn nach einer dazu bestehenden Betriebsvereinbarung durften die elektronischen Anwesenheitsdaten nur zur frühzeitigen Information der Vorgesetzten über das Betreten des Werksgeländes genutzt werden. Darüber hinaus sollte laut Betriebsvereinbarung keine personenbezogene Auswertung dieser Daten erfolgen. 

Auch auf die Videoaufzeichnungen über das Passieren der Werktore durch den Kläger durfte sich der Arbeitgeber nicht berufen. Denn nach einem bei den Kameras angebrachten Hinweistext sollten die Videoaufzeichnungen nur 96 Stunden vorgehalten werden. Im Streitfall hatte der Arbeitgeber aber erst im Jahr 2019 damit begonnen, die bereits im Jahr 2018 angefertigten Videoaufzeichnungen auszuwerten (Urteil, Rn.61). 

Entscheidung des BAG

Das BAG gab der Revision des Arbeitgebers statt und verwies den Fall zurück zum LAG, das ihn jetzt noch einmal überprüfen muss. In der derzeit allein vorliegenden Pressemitteilung des BAG heißt es zur Begründung:

Besteht im Kündigungsschutzprozess Streit über die Frage, ob der Arbeitnehmer vorsätzlich gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen hat, unterliegen Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die dieses vertragswidrige Verhalten belegen sollen, im Allgemeinen keinem Verwertungsverbot vor Gericht. 

Ein prozessuales Verwertungsverbot ergibt sich auch nicht daraus, dass die Videoüberwachung mit den Vorgaben des Datenschutzrechts nicht im Einklang steht. Nur wenn eine Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt, kann im Ausnahmefall aus Gründen der Generalprävention ein Verwertungsverbot in Betracht kommen. Eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung lag im Streitfall aber nicht vor.

Das LAG musste daher bei der Bewertung des Falles nicht nur das Vorbringen des Arbeitgebers zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger vor Schichtbeginn zugrunde legen, sondern möglicherweise auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen. Dies folgt, so das BAG, aus den dem Europarecht und dem deutschen Verfahrens- und Verfassungsrecht. 

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des BDSG bzw. der DS-GVO entsprach. Auch wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre eine richterliche Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten im Kündigungsschutzprozess nach der DS-GVO nicht ausgeschlossen. 

Eine solche prozessuale Verwertungsmöglichkeit besteht jedenfalls dann, wenn die Videoüberwachung wie im Streitfall offen vorgenommen wurde und wenn es um vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers geht. 

In solchen Fällen ist es grundsätzlich unerheblich, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial gewartet und es bis dahin vorgehalten hat. Es spielte daher keine Rolle, dass der Arbeitgeber das Videomaterial erst Monate nach der Aufzeichnung durchgesehen hatte.

Praxishinweis

Die Gerichte müssen im Kündigungsschutzprozess, wenn sich der Arbeitgeber auf ein - möglicherweise nicht rechtmäßig erlangtes - Filmmaterial aus einer offenen Videoüberwachung beruft, eine Wertabwägung vornehmen. 

Dabei geht es zum einen um die Bedeutung der datenschutzrechtlichen Vorschriften, gegen die der Arbeitgeber verstoßen hat, und um die Schwere des Verstoßes, zum anderen aber auch um die Bedeutung des vom Arbeitnehmer (möglicherweise) begangenen Pflichtverstoßes, den das Gericht aufklären muss.

Geht es wie im Streitfall „nur“ um eher formaljuristische Fragen wie die Dauer der zulässigen Aufbewahrung von Videomaterial, andererseits aber um einen vorsätzlich begangenen erheblichen Pflichtverstoß, sollte die Abwägung im Allgemeinen zugunsten der gerichtlichen Verwertbarkeit der Videoaufzeichnungen ausgehen.

Obwohl das BAG dies in der Pressemitteilung nicht ausdrücklich anspricht, geht es im Ergebnis davon aus, dass auch eine Betriebsvereinbarung zur Speicherdauer von Videoaufzeichnungen im Kündigungsschutzprozess weder das materielle Kündigungsschutzrecht noch das Prozessrecht zugunsten des Arbeitnehmers beeinflusst. Dies hatte das LAG Niedersachsen anders gesehen (LAG Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022, 8 Sa 1149/20, Leitsatz 1).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.06.2023, 2 AZR 296/22 (Pressemitteilung des Gerichts)

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022, 8 Sa 1149/20

 

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