Update Arbeitsrecht 01|2021 vom 13.01.2021
Entscheidungsbesprechungen
BAG stellt Abweichung vom Equal-Pay-Prinzip auf den Prüfstand
Bundesarbeitsgericht, Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A)
Der EuGH soll klären, ob die geringere Bezahlung von Leiharbeitnehmern mit dem EU-Recht vereinbar ist.
§§ 3a, 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG); Art.5 Abs.3 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit; §§ 3 Abs.1, 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz (TVG)
Rechtlicher Hintergrund
Leiharbeitnehmer haben eigentlich gemäß § 8 Abs.1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) einen Anspruch auf gleiche Behandlung („equal treatment“) und auf gleiche Bezahlung („equal pay“) wie vergleichbare Stammkräfte des Entleihers. Eigentlich - denn seit 2004 ist es in Deutschland zulässig, vom Gleichstellungsgrundsatz zulasten der Leiharbeitnehmer abzuweichen, vorausgesetzt, der Verleiher bezahlt nach einem Tarifvertrag, und er hält damit zumindest die aktuell gültigen Leiharbeits-Mindestlöhne gemäß § 3a AÜG ein.
Diese Abweichungsmöglichkeit folgt aus § 8 Abs.2 AÜG und ist der Grund für spezielle, auf die „Leiharbeitsbranche“ bezogene Tarifverträge, die eine geringere Bezahlung von Leiharbeitnehmern gegenüber Stammkräften rechtlich erlauben. Eine solche Schlechterstellung ergibt sich auch aus den vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und einzelnen DGB-Gewerkschaften vereinbarten Leiharbeitstarifverträgen. Sie sehen zwar vergleichsweise gute Löhne und Arbeitsbedingungen für die Leiharbeitnehmer vor, doch reichen sie bei weitem nicht an die Bezahlung der Stammkräfte heran.
Die finanzielle Benachteiligung von Leiharbeitnehmern ist seit Jahren umstritten und wurde auch durch die letzte große AÜG-Reform, die seit April 2017 gilt, nicht beseitigt. Immerhin ist seitdem die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz auf maximal neun Monate (bzw. unter Umständen auf 15 Monate) begrenzt (§ 8 Abs.4 AÜG). Außerdem dürfen Leiharbeitnehmer nur noch höchstens 18 Monate beim selben Entleiher eingesetzt werden, § 1 Abs.1b AÜG.
Fraglich ist, ob die nach deutschem Recht zulässige Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz mit dem Europarecht vereinbar ist, d.h. mit Art.5 Abs.1 und Abs.3 der Leiharbeitsrichtlinie (Richtlinie 2008/104/EG vom 19.11.2008). Art.5 Abs.1 der Richtlinie sieht - wie § 8 Abs.1 AÜG - als Grundsatz vor, dass Leiharbeitnehmer die gleichen wesentlichen Arbeitsbedingungen und v.a. den gleichen Lohn erhalten müssen wie die Stammkräfte des Entleihers. Die in Art.5 Abs.3 der Richtlinie vorgesehene Abweichungsmöglichkeit deckt zwar im Prinzip die deutsche Gesetzeslage, verpflichtet aber ausdrücklich zur „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“.
Kritiker der deutschen Rechtslage argumentieren, dass die Möglichkeit einer schlechteren Bezahlung von Leiharbeitnehmern gemäß § 8 Abs.3 AÜG nicht mit dem von Art.5 Abs.3 Richtlinie 2008/104/EG vorgeschriebenen „Gesamtschutz“ von Leiharbeitnehmern vereinbar ist. Mit dieser Frage hat sich vor kurzem das Bundesarbeitsgericht (BAG) befasst.
Sachverhalt
Eine Leiharbeitnehmerin war ein Jahr befristet bei einem Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt und schied zum 04.04.2017 aus dem Unternehmen aus, d.h. einige Tage nach Inkrafttreten der AÜG-Reform. Während ihrer Tätigkeit bei dem Zeitarbeitsunternehmen wurde sie praktisch durchgehend an ein großes Logistikunternehmen verliehen. Nach ihren Berechnungen bekam sie etwa 30 Prozent weniger Lohn als vergleichbare Stammkräfte des Entleihers. Diese Lohndifferenz (für Januar bis April 2017) klagte sie unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz ein.
Der Arbeitgeber berief sich auf seine Mitgliedschaft im Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.), der mit mehreren DGB-Gewerkschaften, u.a. mit der ver.di, Mantel-, Entgeltrahmen- und Entgelttarifverträge geschlossen hatte, aus denen sich eine geringere Bezahlung der Klägerin im Vergleich zu den Stammarbeitnehmern des Entleihers ergab. Da die Klägerin Mitglied der ver.di war, waren die iGZ-Tarife wegen beiderseitiger Tarifbindung (§§ 3 Abs.1, 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz - TVG) auf ihr Arbeitsverhältnis anwendbar. Außerdem enthielt der Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf die iGZ-Tarife.
Das Arbeitsgericht Würzburg wies die Klage ab, u.a. wegen der arbeitsvertraglich vereinbarten dreimonatigen Ausschlussfrist, da die Klägerin ihre Lohnansprüche für Januar und Februar 2017 erst im Sommer 2017 und damit zu spät geltend gemacht hatte (Urteil vom 08.05.2018, 2 Ca 1248/17). Auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg entschied zugunsten des Arbeitgebers (LAG Nürnberg, Urteil vom 07.05.2019, 5 Sa 230/18).
Entscheidung des BAG
Das BAG fragte den Europäischen Gerichtshof (EuGH), ob das deutsche Recht mit der Richtlinie 2008/104/EG zu vereinbaren ist.
Wie der derzeit allein vorliegenden BAG-Pressemeldung und den Vorlagefragen zu entnehmen ist, möchte das BAG v.a. wissen, was zu dem „Gesamtschutz“ gehört, zu dessen „Achtung“ die Richtlinie die Mitgliedsstaaten verpflichtet (Art.5 Abs.3). Möglicherweise kann der Staat diesen Schutz nicht allein den Tarifparteien überlassen, sondern muss selbst als Gesetzgeber aktiv werden. Möglicherweise muss rechtlich vorgeschrieben sein, dass zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht (wenn der Leiharbeitnehmer schon eine geringere Bezahlung als die Stammkräfte akzeptieren muss).
Praxishinweis
Wie der EuGH entscheidet, ist offen. Daher ist bereits der Vorlagebeschluss des BAG als solcher keine gute Nachricht für die Leiharbeitsbranche.
Aufgrund der in praktisch allen Arbeitsverträgen von Leiharbeitsunternehmen enthaltenen (und in der Regel wirksamen) dreimonatigen Ausschlussfrist werden die betroffenen Leiharbeitnehmer zwar kaum Nachforderungen stellen können, dafür aber die Krankenkassen und Finanzämter, falls der EuGH die Vorlagefragen im Sinne der Klägerin beantworten sollte.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A)
Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit, Zeitarbeit)
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